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Rumänien, Bulgarien, Istanbul Esssay Sammlung EXKURSION: Vom 22.09. – 7.10.2007 Leitung: Dr. Jörg Waldmann Dipl. Geogr. Christian Smigiel Florian Feigs, MSocSc Institut für Geographie und Institut für Politikwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

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Exkursion: „Rumänien, Bulgarien, Istanbul - Zwischen EU-Integration, Isolation und Globalisierung“ im Wintersemester 2007/ 2008 am Institut für Geographie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dozenten: Dr. Jörg Waldmann, Institut für Politikwissenschaften, Universität Münster Dipl. Geogr. Christian Smigiel, Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig Dr. Florian Feigs, Institut für Geographie, Universität Münster Im Selbstverlag des Instituts für Geographie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster www.uni-muenster.de/geographie Dezember 2009 Deckblattfoto: Istanbul (Quelle: Feigs 2010)

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Inhalt Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4

Teil I: Stadtentwicklung in metropolitanen Regionen 8

Sozialistische und postsozialistische Stadtentwicklung Bukarests – ein Überblick 8

Living dysfunctions in peripheral urban regions 19

Stadtstrukturen und Stadtentwicklungspolitik Istanbuls: 30

Teil II Spannungsfelder zwischen Ökologie und Ökonomie 37

Stadtökologie in der Megacity – Herausforderungen und Lösungsansätze am Beispiel Istanbul 37

Ländliche Entwicklungen zwischen Subsistenzwirtschaft und internationaler Ökonomie 42

Teil III EU Integration und Regionalismen 49

Verwaltungsgebiet statt Identitätsraum - Rumäniens Regionen als „Nebenprodukt“ des EU-Beitritts 49

Teil IV Raumbilder: Türkei und ihre Raumwahrnehmung 56

Das Türkeibild in deutschen Schulbüchern 56

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1. EINLEITUNG

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1. Einleitung

Von: Florian Feigs und Christian Smigiel Als wir uns im Winter 2006/2007 erstmals mit der Planung dieser Exkursion beschäftigten, war uns klar, dass sich die enorme Vielfalt dieser drei Länder und somit auch die Vielfalt an Exkursionsinhalten am ehesten über eine große Bandbreite an Treffen mit Akteuren vor Ort vermitteln lässt. Bei der anschließenden Suche nach Kernthemen der Exkursion, entstand die Idee, den zu Beginn des Jahres vollzogenen EU-Beitritt Bulgariens und Ru-mäniens sowie die kontrovers diskutierte EU-Perspektive der Türkei mitsamt ihren politi-schen, sozialräumlichen und ökonomischen Dimensionen in den Mittelpunkt der Exkursi-on zu stellen. Insbesondere die politische Komponente dieses Oberthemas brachte uns auf die Idee, die Münsteraner Politikwissenschaft zu einer Kooperationsveranstaltung einzuladen. In Dr. Jörg Waldmann fanden wir einen engagierten Kollegen, so dass wir im Frühjahr 2007 mit den Planungen für eine zweiwöchige Exkursion durch Rumänien und Bulgarien bis nach Istanbul beginnen konnten. Zu unserem nun dreiköpfigen Do-zententeam stießen noch Patrick Niemann und Jonas Linke, die uns als Tutoren vor und während der Exkursion tatkräftig unterstützten. Ziel unseres Exkursionskonzeptes war es, die politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhänge im Raum aufzuzeigen und die Studierenden zum kritischen Nachfra-gen anzuleiten. Hierzu sollte nicht das Wissen über die Standorte vor Ort reifiziert wer-den. Vielmehr sollten die Akteure, die wir getroffen haben für sich sprechen. So wurde die Vielschichtigkeit soziopolitischer Prozesse deutlich. Bei der anschließenden Vorbereitung war uns neben der inhaltlichen Ausrichtung wich-tig eine für die finanziellen Möglichkeiten von Studierenden passende Lehrveranstaltung zu konzipieren. Daher wurde ein Antrag zur Förderung von Gruppenreisen von Studie-renden im Ausland beim Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD) gestellt, der im Juli 2007 positiv bewilligt wurde. Die inhaltliche Vorbereitung ergab, dass die Exkursion in Cluj-Napoca beginnen würde. Während des dreitägigen Aufenthalts standen die Entwicklung der Stadt Cluj-Napoca vor dem Hintergrund ihrer multiethnischen Geschichte, die Umsetzung von Vorgaben der Europäischen Union zur Erschaffung einer effizienten Regionalpolitik und die europä-ische Bildungspolitik im Mittelpunkt. Die genannten Themen wurden mit Vertreten und Studierenden der Babes-Bolyai Universität Cluj-Napoca diskutiert. Darüber hinaus wurde dem Thema nachhaltige Regional- und Wirtschaftsentwicklung ein Exkursionstag ge-widmet. Veranschaulicht wurde es bei einem Ausflug in das traditionsreiche Goldberg-baugebiet Rosia Montana südlich von Cluj. Im Gespräch mit Vertretern einer lokalen Nichtregierungsorganisation (Alburnus Major) konnten die Studierenden einen Eindruck gewinnen, wie schwierig eine ausgewogene Regionalentwicklung vor dem Hintergrund konkurrierender Interessen global agierender Unternehmen ist. Anschließend ging es für drei Tage in die rumänische Hauptstadt Bukarest. Hier standen Treffen mit Vertretern der Europäischen Kommission auf dem Programm, bei denen u.a. das Thema Korruption intensiv besprochen wurde. Neben der gesellschaftlichen Ent-

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1. EINLEITUNG

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wicklung des Landes war ein Schwerpunkt in Bukarest die Stadtentwicklung der Haupt-stadt seit dem Jahr 1945. Eine von Studierenden geführte Stadtexkursion gab einen sehr eindrucksvollen Einblick in die von wechselnden Machtkonstellationen und Naturkatast-rophen geprägte Architektur- und Sozialgeschichte Bukarests. In Bulgarien war Sofia als Standort auserkoren. In den ersten zwei Tagen ging es vor al-lem um die unterschiedlichen Dimensionen bulgarisch-deutscher Zusammenarbeit. Das Treffen mit dem Präsidenten der deutschen Außenhandelskammer in Bulgarien verdeut-lichte die vielfältigen Verflechtungen deutscher und bulgarischer Unternehmen. Dass es nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft sehr enge Kooperationen gibt, offenbarte der Besuch des Goethe-Instituts und der deutschsprachigen Abteilung des Sofioter Gala-bov-Gymnasiums. Bei einer Schulstunde zusammen mit Schülern der 10. Klasse, die ne-ben dem bulgarischen Abschluss auch das deutsche Abitur ablegen können, wurde sehr offen über die Verlockungen eines Studiums im Ausland und die negativen Folgen der massenhaften Abwanderung von Hochgebildeten aus Bulgarien diskutiert. Wie be-reits in Bukarest war auch in Sofia dem Thema Korruption ein Nachmittag gewidmet. Hierzu wurde das Sofitoer Büro von Transparency International, einer internationalen NGO, die sich mit der Bekämpfung von Korruption beschäftigt, aufgesucht. Die Mitar-beiter gaben einen Einblick in die Schwierigkeiten der alltäglichen Antikorruptionsarbeit. Den Abschluss der Exkursion bildete ein siebentägiger Aufenthalt in Istanbul. Im Mittel-punkt standen die Themen Stadtentwicklung Istanbul und die Türkei-EU-Beziehungen. Für den ersten Themenblock wurden unterschiedliche Routen in der Stadt erlaufen, die aktuelle Phänomene, wie illegale Wohnsiedlungen, Altstadt-Erneuerung und Gentrifica-tion, widerspiegeln. Die historische Altstadt, das europäisch geprägte Beyoglu und der asiatische Teil Istanbuls standen hierbei im Mittelpunkt. Bei der Technischen Universität Istanbul und beim städtischen Planungsamt konnten diese Themen mit lokalen Experten diskutiert werden. Eine von den Studierenden organisierte Geländeübung in Üsküdar umfasste die Fragestellung, wie sich der orientalisch geprägte Einzelhandel im Zuge der Globalisierung auf der Mikroebene ändert. Hierzu wurden Kartierungen durchgeführt. Der zweite Themenblock wurde durch Treffen bei einer Menschenrechtsorganisation und durch verschiedene Gruppendiskussionen besprochen. Die Beiträge dieses Exkursionsbandes, die allesamt von Teilnehmern der Exkursion ver-fasst wurden, geben einen vertiefenden Einblick in einige der genannten Themen, die während der Exkursion in Form von Referaten, Treffen mit Akteuren vor Ort, Gruppendis-kussionen und Arbeiten im Feld diskutiert und erörtert wurden. Die beiden ersten Artikel legen den Fokus auf die rasanten Veränderungen der rumäni-schen Hauptstadt. Sergej Melcher skizziert in seinem Beitrag 60 Jahre Stadtentwicklung Bukarests. Hierbei wirft er unter anderem einen differenzierten Blick auf die städtebauli-chen Aus- und Umgestaltungen der Ceausescu-Ära, die auch heute noch das Stadtbild prägen. Gleichzeitig erläutert er den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Entwicklun-gen. Darüber hinaus thematisiert er die erheblichen Herausforderungen mit denen Bu-karest in der postsozialistischen Ära zu kämpfen hat. Diana Andreea Onose and Roxana Andreea Carcale, zwei Studierende der Universität Bukarest, betrachten in ihrem Beitrag ebenfalls die postsozialistische Zeit. Allerdings erör-tern sie in ihrem Beitrag die Entwicklung am Rand der Metropole. Genauer analysieren sie am Beispiel der Siedlung Pipera den enormen Wandel einer vormals ländlichen Sied-

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1. EINLEITUNG

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lung. Der zu konstatierende Funktions-, Landnutzungs- und sozialräumliche Wandel wird auf Basis eigener Rechercheergebnisse dargestellt. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein Beitrag von Laura Wenz. Sie widmet sich darin der zunehmenden Bedeutung von Kultur als Teil repräsentativer Stadtpolitik. Am Beispiel von Istanbul werden neueste Stadtentwicklungstrends der creative industries erläutert. Ihre Auswirkungen betreffen einerseits das Image von Istanbul, sind aber andererseits in direkterem Maße Triebkräfte für die sozialräumliche Änderung der Stadtviertel. Gentrifi-zierungsprozesse sind hierbei häufig zu erkennen. Der zweite Teil dieses Exkursionsbandes thematisiert die vielschichtigen Konfliktlinien, die sich zwischen Ökonomie und Ökologie im urbanen und ruralen Kontext ergeben. Ver-schiedene Akteure mit ihren unterschiedlichen Instrumenten und Strategien, die auf allen Ebenen eingesetzt werden, stehen sich in der Praxis oftmals diametral gegenüber. Die Konsequenzen dieser Konflikte sind für die Nutzung maßgebend, der Akteur, der sich auf der regionalen bis internationalen Entscheidungsebene bestmöglich durch-setzt, bestimmt die Nutzung. Dies geschieht oft ohne die Einbindung der betroffenen Bewohner – sei es die Bewohner des Dorfes Rosia Montana in Rumänien, sei es die be-stehenden Bewohnerstrukturen in Verdichtungsräumen wie Bukarest oder Istanbul. Heike Gieselmann widmet sich in ihrem Beitrag den vielfältigen Herausforderungen, die der Megacity Istanbul im Bereich Stadtökologie begegnen. Hierbei identifiziert sie die wesentlichen Probleme, die von Wasserver- und entsorgung über Verkehr bis hin zu Marginalsiedlungen reichen. Des Weiteren verdeutlicht der Beitrag, wie sich stadtöko-logische Problemstellungen in einer Megacity überlagern und somit eine Lösungsfin-dung erschweren. Jonas Linke erläutert in seinem Beitrag aktuelle Verwerfungen im nordwestrumänischen Rosia Montana. Dort gerät ein seit Jahrhunderten von Subsistenzwirtschaft und nicht industriellen Goldbergbau geprägtes ländliches Gebiet in die Mühlen globaler Wirt-schaftsaktivitäten und politischer Interessen. Ein Konsortium bestehend aus einem glo-bal agierenden Unternehmen und der rumänischen Bergbaugesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt Goldabbau in großer Dimension zu betreiben - ein sowohl ökologisch als auch sozialpolitisch fragwürdiges Projekt mit weit reichenden Folgen für die gesamte Region. Der dritte Teil widmet sich der Regionalpolitik, die – oft als Kompromiss zwischen der lo-kalen Identität und der administrativen Einteilung gesehen werden muss – zu vielschich-tigen Kompetenzdifferenzen der einzelnen Ebenen führt. Carl-Philipp Schuck geht sich in seinem Beitrag auf die regionalpolitischen Auswirkun-gen des rumänischen EU-Beitritts ein. Aufgrund des Fehlens der regionalen Ebene muss-te diese im Zuge des EU-Beitritts neu geschaffen werden. Ein durchaus schwieriger Pro-zess, spielt die regionale Ebene und Regionalisierung im Politikverständnis der Europäi-schen Union eine große Rolle. Ob sich die geschaffenen Regionen auch als „Identitäts-träger“ im Bewusstsein der Menschen verankern, hängt nicht zuletzt von einer transpa-renten politischen Umsetzung in Brüssel und in Rumänien ab. Raumbilder sind eine Grundlage für die Entscheidungen vor allem auf nationaler Ebe-ne, dies erläutert Claudia Stiehm im vierten Teil. Raumbilder sind meist schwach argu-

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1. EINLEITUNG

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mentativ untermauert, dienen aber als Entscheidungsgrundlage und haben weit rei-chende Auswirkungen. Sie entstehen durch bewertende Zuschreibungen von Eigen-schaften und geographischen Gegebenheiten. Claudia Stiehm hat die Raumprodukti-onen über die Türkei und „die Türken“ in Schulbüchern untersucht. Dazu wurden exem-plarisch verschiedene Schulbücher aus verschiedenen Epochen analysiert und deren Kategoriensysteme aufgezeigt. Diese Publikation dient dazu, ausgewählte Leitthemen der Exkursion noch mal auf-zugreifen und zu vertiefen. Ziel der Publikation ist es nicht, genaue Routen und Standor-te zu präsentieren, im Sinne eines Exkursionsführers. Die hier veröffentlichen Artikel wur-den von den Studierenden im Nachgang der Exkursion verfasst.

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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Teil I: Stadtentwicklung in metropolitanen Regionen

Sozialistische und postsozialistische Stadtentwicklung Buka-rests – ein Überblick

Von: Sergei Melcher

Gut 18 Jahre nach dem Sturz des kommunistischen Regimes ist die rumänische Haupt-stadt Bukarest geprägt von großflächigen Werbeplakaten und Leuchtreklame an den Häuserfassaden sowie einem zunehmend dichter werdenden Verkehr. Diese Tenden-zen können als das sichtbare Ergebnis einer tief greifenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen postsozialistischen Transformation des Landes und seiner Haupt-stadt aufgefasst werden. Städtebaulich und architektonisch ist Bukarest jedoch in wei-ten Teilen vom Erbe der sozialistischen Stadtentwicklung geprägt – die ab den 1950er Jahren entstandenen Großwohnsiedlungen und insbesondere die radikale Umgestal-tung der Innenstadt unter Ceausescu in den 1980er Jahren bestimmen auch heute die Physiognomie der Stadt. Die im Süden des Landes in der Walachischen Tiefebene gelegene rumänische Haupt-stadt Bukarest (rum. Bucuresti) ist das politische, ökonomische und kulturelle Zentrum des Landes. Hier befinden sich neben dem Sitz der rumänischen Regierung und ihrer Ministerien zahlreiche Niederlassungen sowohl national als auch international agieren-der Unternehmen sowie mehrere bedeutende Hochschulen und kulturelle Einrichtun-gen. Mit knapp 1,93 Mio. Einwohnern (2002) ist Bukarest darüber hinaus rund sechs Mal größer als die zweitgrößte Stadt Rumäniens Iasi (SĂGEATĂ 2002, S.157). Im rumänischen Siedlungssystem kommt ihr somit die Funktion einer Primatstadt zu. Ein Blick auf die Aus-ländischen Direktinvestitionen (ADI) verdeutlicht diese herausragende Stellung: Insge-samt flossen 60,6% aller bis zum 31.12.2005 in Rumänien getätigten ADI in den Agglome-rationsraum Bukarest1 (National Banc of Romania o.J.: 6). Aus stadthistorischer Perspektive wird Bukarest oft als eine „Stadt zwischen Orient und Okzident“ bezeichnet (HARHOIU 1997, zit. n. ELLEGER ET AL. 1999, S.77). Die im europäischen Kontext eher exzentrische Lage der Stadt am Schnittpunkt unterschiedlicher historischer Machtbereiche führte zum Einfluss verschiedener Kulturen auf die Stadtentwicklung. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren insbesondere östliche (d.h. byzantinische und türkische) Einflüsse maßgeblich für die Stadtentwicklung, während ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der zunehmenden Westorientierung Rumäniens vor allem mittel- und westeuropäische Ideen in den Städtebau sowie in die Architektur Einzug hielten (ELLEGER ET AL. 1999, S.77). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Stadtkörper im Kon-text des sozialistischen Städtebaus modifiziert und erweitert, während sich nach 1989/90 deutliche Tendenzen einer postsozialistischen Transformation in Richtung kapitalistischer Denk- und Handelsweisen mit entsprechendem städtebaulichen Niederschlag beo-bachten lassen. Bukarest ist eine junge Stadt – sie wurde erstmals am 20. September 1459 in einer Urkun-de erwähnt. Zahlreiche frühgeschichtliche Funde belegen allerdings, dass das Gebiet in

1 Der Agglomerationsraum Bukarest umfasst neben der Stadt Bukarest auch den judeţ Ilfov.

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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und um Bukarest bereits seit Jahrtausenden besiedelt ist. Auf Grund der strategischen Gunstlage an den Ufern des Flusses Dâmboviţa erlebte die junge Stadt bereits sehr früh ein rasches Wachstum. Nachdem das Osmanische Reich seinen Einfluss auch auf Süd-osteuropa ausdehnen konnte, entwickelte sich Bukarest zu einem wichtigen Punkt für den Handel mit Istanbul (TURNOCK 1990, S.107). Im Laufe der Zeit wuchs auch die politi-sche Stellung der Stadt: 1659 wurde Bukarest Hauptstadt der Walachei und 1862, nachdem sich die Fürstentümer Walachei und Moldau zu Rumänien vereinigt hatten, zur rumänischen Hauptstadt. 1878 erlangte Rumänien auf dem Berliner Kongress die politische Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich und orientierte sich fortan unter der Regentschaft des aus dem deutschen Herrscherhaus Hohenzollern-Sigmaringen stam-menden Carol I. am westlichen Europa und insbesondere an Frankreich (Elleger et al. 1999: 83). In diesem Kontext wurden in Bukarest zahlreiche Modernisierungs- und Infra-strukturmaßnahmen durchgeführt: „By the end of the nineteenth century, the city […] could boast two train stations, an electric tram line, electrical, telephone, and sewera-ge systems, and street lights that had been installed in 1857 and that represented the first such system in the world“ (DANTA 1993, S.170). Der Stadtkörper erhielt mehrere zent-rale Achsen in Haussmann’scher Weise, die bis heute zu den breitesten Boulevards der Stadt zählen (ELLEGER ET AL. 1999, S.83). In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich Bukarest zu einer modernen europäischen Metropole, zum „Paris des Ostens“. In dieser Zeit ent-standen zahlreichen Bauten der rumänischen Moderne, die auch heute noch in weiten Teilen Stadtbild prägend sind (ausführlich: NERDINGER 2001). Zum Ende des Zeiten Welt-kriegs geriet Rumänien unter sowjetischen Einfluss. Am 30. Dezember 1947 wurde König Mihai zur Abdankung gezwungen und noch am selben Tag die Volksrepublik ausgeru-fen (VERSECK 2001, S.68). Die Einführung der marxistisch-leninistischen Ideologie auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene spiegelte sich sodann sehr rasch auch in der Stadtplanung Bukarests wider. Sozialistische und postsozialistische Stadtentwicklung Bukarests Die Stadtentwicklung Bukarests nach dem Zweiten Weltkrieg kann in vier Phasen einge-teilt werden (eigener Entwurf, in Anlehnung an DANTA 1993): Die frühsozialistische Phase (1945/47 bis 1965), die frühe Regierungszeit Ceausescus (1965 bis ca. 1980), die radikale Umgestaltung der Innenstadt unter Ceausescu (ca. 1980 bis 1989/90) sowie die postso-zialistische Stadtentwicklung (seit 1989/90). Die einzelnen Stadtentwicklungsphasen sind dabei sehr eng mit den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Prozessen und Entwicklungen im Land verknüpft bzw. können auch als Ausdruck dieser verstanden werden. Frühsozialistische Phase (1945/47 bis 1965) Die Kriegsschäden des Zweiten Weltkrieges fielen in Bukarest vergleichsweise gering aus – rund 13% der Gebäude wurden zerstört (DANTA 1993, S.171 sowie RADU 1993, S.59). Dementsprechend stand zunächst die Beseitigung und Reparatur der Kriegszerstörun-gen im Vordergrund. Der Erlass des Verstaatlichungsgesetzes 1948 markierte den Beginn des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft: Innerhalb kürzester Zeit wurde der Privatbesitz an Grund und Boden enteignet und verstaatlicht (VERSECK 2001, S.70). Dieser Schritt ermöglichte in Bu-karest eine nahezu uneingeschränkte Verwirklichung sozialistischer städtebaulicher

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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Maßnahmen. In diesem Kontext wurden bereits sehr früh wichtige Gebäude beschlag-nahmt und umgenutzt: So wurde beispielsweise der Königspalast im Zentrum der Stadt ab 1950 vom Staatsrat sowie für Kunstausstellungen genutzt und die zahlreichen Villen im Norden Bukarests dienten fortan als Botschaften, Regierungsbüros oder auch Woh-nungen der neuen Machthaber (DANTA 1993, S.171 sowie ELLEGER ET AL. 1999, S.87). Eben-so kam es zur Umbenennung zahlreicher Straßen und Plätze der Stadt – alleine in den ersten Jahren der Volksrepublik wurden über 150 Straßen in Bukarest umbenannt (Light et al. 2003: 137). So erhielt beispielsweise der Boulevard Carol I. den neuen Namen Bou-levard der Republik und der Königin-Maria-Platz hieß ab 1948 Marschall-Tito-Platz (aus-führlich: LIGHT ET AL. 2003). Solche Maßnahmen entsprachen dabei der generellen sozia-listischen städtebaulichen Transformation und waren auch für andere osteuropäische Städte typisch (BÄHR & JÜRGENS 2005, S.147ff.). Im Gegensatz zu anderen sozialistischen Ländern schlug sich in Bukarest jedoch der architektonische Stil der Stalinära („Zucker-bäckerstil“) in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis auf wenige Ausnahmen kaum nie-der (DANTA 1993, S.171 sowie ELLEGER ET AL. 1999, S.87). 1950 wurde die zukünftige ökonomische Entwicklung des Landes im ersten Fünfjahres-plan festgelegt. Rumänien sollte sich demnach vom Agrarland zum Industriestaat ent-wickeln (VOSSEN 2003, S.215). In Analogie zu anderen sozialistischen Ländern wurde auch in Rumänien und Bukarest die Schwerindustrie in Form so genannter schwerindustrieller Plattformen ausgebaut. Das gestiegene Arbeitsplatzangebot führte jedoch sehr rasch zu einem schnellen Bevölkerungswachstum vor allem infolge von Zuwanderung: Wäh-rend 1948 Bukarest rund eine Million Einwohner verzeichnete, waren es vier Dekaden später bereits zwei Millionen (Diagramm 1). Diagramm 1: Bevölkerungsentwicklung in Bukarest 1831-2002 Quelle: eigene Darstellung 2007, Datenquelle: SĂGEATĂ 2002: 157 Aus dem Bevölkerungsanstieg resultierte bereits in den 1950er Jahren eine starke Woh-nungsnachfrage, die zu einem groß angelegten staatlichen Wohnungsneubaupro-gramm führte. Ab Ende der 1950er Jahre und insbesondere ab den 1960er Jahren ent-standen mehrere Großwohnsiedlungen an der Peripherie Bukarests nach dem Nach-barschaftskonzept (DANTA 1993, S.171). Die sich in unmittelbarer Nähe zu schwerindus-triellen Plattformen befindenden Wohnensembles sind dabei hierarchisch in abneh-

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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mende räumliche Größeneinheiten (Sektoren, Viertel, Mikroraione, Wohngruppen und Apartments) organisiert und mit unterschiedlichen Versorgungs- und Dienstleistungsfunk-tionen ausgestattet (VOSSEN 2003, S.226f., ausführlich: ebenda: 224ff.). Mit dieser Konzep-tion wurde der Grundstein für die insgesamt neun Großwohnsiedlungen der Stadt ge-legt, in denen heute etwa 82% der Bukarester Bevölkerung leben (LIEBMANN & RIETDORF 2001, S.80). Die größte von ihnen ist Balta Albă-Titan, die sich bis in die Gegenwart auf rund 450.000 Einwohner weiterentwickelt hat (VOSSEN 2003, S.228).

Frühe Regierungszeit Ceausescus (1965 bis ca. 1980) Am 19. März 1965 starb der bisherige Staats- und Parteichef Gheorghe Gheorghiu-Dej, der als „treuester Gefolgsmann von Stalin“ galt und „Rumänien zu einem der ergebens-ten Satellitenstaaten der UdSSR“ machte (KUNZE 2000, S.148). Sein Nachfolger als Partei-chef wurde Nicolae Ceausescu, der zu Beginn eine Politik der Souveränität Rumäniens sowie einer Liberalisierung des kulturellen und öffentlichen Lebens verfolgte. So wurden in den ersten Regierungsjahren Ceausescus die Reisemöglichkeiten erweitert und in kleinem Maße Privatwirtschaft – etwa in Form von Geschäften, Reparaturwerkstätten und Restaurants – zugelassen (ebenda: 161f.). Der eingeschlagene Weg der Souveräni-tät Rumäniens erreichte im August 1968 einen Höhepunkt: Als einziger Warschauer-Pakt-Staat beteiligte sich Rumänien nicht an der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ und bereits einen Tag nach dem Einmarsch der Truppen in der Tschechoslowakei verurteilte Ceausescu die Militäraktion öffentlich (ebenda: 176ff.). Dieser antisowjetische Kurs und die vorsichtige Liberalisierung Ceausescus wurden im Westen als eine Sensation aufge-fasst und wichtige Staatsgäste aus dem westlichen Ausland „gaben sich in Bukarest die Klinke in die Hand“ (ebenda: 180): Bereits 1968 besuchte Charles de Gaulle Rumänien und 1969 wurde US-Präsident Richard Nixon in Bukarest empfangen (ebenda: 181ff.). Die frühe Regierungszeit Ceausescus war somit durch eine Abkehr von der Sowjetunion und einer Öffnung nach Westen gekennzeichnet. Diese Liberalisierung fand auch einen städtebaulichen Niederschlag: Um 1970 entstanden mehrere Bauten im internationalen Stil wie das Hotel Intercontinental und das Nationaltheater (ELLEGER ET AL. 1999, S.90 sowie RADU 1993, S.59). Neben solchen Großprojekten konzentrierte sich die Stadtentwicklung in dieser Phase jedoch weiterhin auf die äußeren Stadtbereiche. Auch unter Ceausescu kam der Industrialisierung des Landes oberste Priorität zu. Es entstanden daher neue Industrieplattformen an der Peripherie der Stadt. Parallel dazu wurde für die weiterhin wachsende Einwohnerzahl Bukarests neuer Wohnraum geschaffen. Die vorrangige Aufgabe der Stadtplanung bestand in diesen Jahren darin, flächensparend zu bauen, um vor allem landwirtschaftliche Nutzflächen zu erhalten. Vor diesem Hintergrund wur-den in Bukarest zum einen die bestehenden Siedlungsbereiche in den Großwohnsied-lungen verdichtet, d.h. zwischen den bereits bestehenden Bauten wurden weitere Ge-bäude zu Lasten von Grünflächen errichtet (VOSSEN 2003, S.231). Zum anderen wurden so genannten „Restrukturierungen“ insbesondere an großen Einfallstraßen der Stadt durchgeführt, d.h. die Altbauten abgerissen, die Straßen verbreitet und anschließend entlang dieser Neuwohnbauten mit bis zu 15 Stockwerken errichtet (ELLEGER ET AL. 1999, S. 90f. sowie VOSSEN 2003, S.242ff.) (Abb. 1).

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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Abb. 1 Bebauung der Calea Moşilor, einer Einfallsstraße im Nordosten Bukarest, im Rahmen der „Restrukturierung“. Quelle: eigene Aufnahme 2007 Durch die Schaffung von neuem Wohnraum innerhalb von bereits bestehenden Be-bauungsgrenzen ergab sich eine recht hohe Einwohnerdichte in Bukarest. Sie beträgt heute bei einer Stadtfläche von 228 km² rund 8.500 E/km² und ist damit vor allem als das Ergebnis der kompakten sozialistischen Stadt zu verstehen. Eng verknüpft mit der flä-chenmäßigen Kompaktheit der sozialistischen Stadtstrukturen ist auch eine geringe indi-viduelle Motorisierung, die eine zentrale Stellung des ÖPNV-Verkehr bedingt (BÄHR &

JÜRGENS 2005, S.147ff.). Auch in Bukarest wurde daher das ÖPNV-System kontinuierlich ausgebaut – besonders hervorzuheben ist die Fertigstellung des ersten Bauabschnittes der U-Bahn 1979. Da die Zuwanderung nach Bukarest weiterhin auf einem hohen Niveau blieb, wird in den 1970er Jahren ein Zuzugsverbot erlassen, das lediglich im Falle von Eheschließun-gen oder Sonderfällen Ausnahmen vorsah (ŞTEFOI 1996, S. 2016). Das natürliche Bevölke-rungswachstum blieb jedoch auch weiterhin – insbesondere auf Grund der strikten Ge-burtenpolitik – positiv (Diagramm 1). Am 4. März 1977 ereignete sich in Südrumänien ein schweres Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 auf der Richterskala, bei dem rund 1.400 Menschen ums Leben kamen (KUNZE

2000, S.268). Bukarest wurde dabei besonders schwer getroffen. Die Erdbebenschäden in der Hauptstadt sollten in den folgenden Jahren als Vorwand für eine radikale Umges-taltung der Innenstadt dienen.

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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Radikale Umgestaltung der Innenstadt und Ceausescu (ca. 1980 bis 1989/90)

Nach einer anfänglichen Liberalisierung in vielen Lebensbereichen wurde die Herr-schaft Ceausescus ab den 1970er Jahren zunehmend totalitärer und repressiver: Die Lockerungen der frühen Regierungszeit wurden sehr bald zurückgenommen, die Stel-lung der Geheimpolizei Securitate ausgebaut und die absolute Macht in der Hand der Familie Ceausescu konzentriert. Elena Ceausescu, die Ehefrau Ceausescus stieg sehr rasch zur zweitwichtigsten Person im Land auf. Ceausescu selbst wurde als Conducator (Führer) bezeichnet, die Lobeshymnen auf ihn nahmen deutliche Züge des Personenkul-tes an: „Schöpfer einer Epoche von nie geahnter Erneuerung“, „Titan der Titanen“, „Honig der Welt“, „Sohn der Sonne“ (ausführlich: KUNZE 2000, S.232ff.). Trotz einer öko-nomischen Krise des Landes begann Ceausescu verschiedene kostspielige Großprojek-te: 1973 wurde der Bau des Donau-Schwarzmeer-Kanals wieder aufgenommen (1984 fertig gestellt), ab 1980 die Innenstadt Bukarests umgestaltet und 1988 wurde damit begonnen, die Hälfte der rund 13.000 rumänischen Dörfer bis zum Jahr 2000 zu systema-tisieren, d.h. abzureißen und zu Gunsten von agroindustriellen Komplexen zu ersetzen. Parallel dazu verkündigte Ceausescu 1982 die vollständige Rückzahlung aller Auslands-schulden von rund 13 Mrd. US-Dollar, was auch bis 1989 gelingt. Für die Bevölkerung bedeutete ein solcher Kurs enorme Einschnitte in allen Lebensbereichen (ausführlich: KUNZE 2000, S.302ff.). Im Kontext dieses zunehmenden „Realitätsverlust[es] des alternden Ceausescu“ (eben-da, S.302) kam es zur Schwerpunktverlagerung der städtebaulichen Aktivitäten in Buka-rest – im Mittelpunkt der Stadtentwicklung stand nun die Innenstadt. Die Zerstörungen des Erdbebens von 1977 dienten dabei als Anlass für eine radikale Umgestaltung der Innenstadt und die Errichtung eines Stadtzentrums nach sozialistischem Vorbild. Bereits 1977 ließ Ceausescu erste Pläne für eine Neubebauung erarbeiten, der flächende-ckende Abriss ganzer Stadtteile begann jedoch erst 1984. In den folgenden Jahren wurde eine Fläche von rund 5 km Länge und etwa 1 km Breite – dies entspricht knapp 20-25% der Bukarester Innenstadt – abgerissen und insgesamt 40.000 Menschen zwangsumgesiedelt (ELLEGER 1999, S.91 sowie VOSSEN 2003, S.267). Die historische Bausub-stanz der betroffenen Stadtteile aus dem 15. bis 19. Jahrhundert sowie insgesamt 17 Kirchen wurden vollständig zerstört (KUNZE 2000, S.308). Einige Kirchenbauten wie bei-spielsweise die Mihai-Vodă-Kirche wurden hingegen transloziert und hinter neuen Fas-saden „versteckt“. Auf der so innerhalb kürzester Zeit entstandenen Freifläche wurde sehr rasch das neue Stadtzentrum realisiert. Wesentliches Element der Neubebauung ist dabei das „Haus des Volkes“, das alle wichtigen Staatsorgane beherbergen sollte und an dem seit 1984 unter der Leitung der jungen Architektin Anca Petrescu gebaut wur-de. Mit einem Grundriss von 240 x 280 m, einer Höhe von 83 m, insgesamt 17 Etagen und einer Fläche von rund 63.000 m² gilt es heute als das zweitgrößte Gebäude der Welt nach dem Pentagon in Washington (VOSSEN 2003, S.270f.). Diese Zahlen sind je-doch kritisch zu betrachten, denn in der Literatur finden sich zu dem Gebäude unter-schiedlichste Angaben (auch zu den oben genannten): So gibt KUNZE die Zahl der an dem Bau beteiligten Arbeiter mit 200.000 an, während Vossen von „nur“ 73.000 Arbei-tern spricht (KUNZE 2000, S.308 sowie VOSSEN 2003, S.271). Ähnliches gilt auch für die An-zahl der Räume des Gebäudes – die Angaben reichen hier von 700 bis 7.000 (ebenda). Tatsache ist jedoch, das das „Haus des Volkes“ ein Bau der Superlative ist, an dem rund um die Uhr gebaut und bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich einheimische Bauma-terialien verwendet wurden.

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Das zweite wesentliche Element der Neubebauung ist der rund drei Kilometer lange „Boulevard des Sieges des Sozialismus“, der auf das „Haus des Volkes“ zuläuft und in einem großen Platz für Massenkundgebungen endet. Der breite Boulevard wird von 9-10 geschossiger Randbebauung, Baumreihen mit großzügigen Wegen und in der Mitte von Springbrunnen gesäumt (Abb. 2). Im Rahmen der Entstehung des neuen Stadtzent-rums erhielt auch die Dâmboviţa ein neues Flussbett. Daneben wurden einige Gebäu-de im Zentrum der Stadt wie das Nationaltheater oder das Unirea-Kaufhaus in ihrer Phy-siognomie an die Architektur der Neubebauung angepasst. Abb. 2 Der ehemalige „Boulevard des Sieges des Sozialismus“ mit dem „Haus des Vol-kes“ an seinem westlichen Ende Quelle: eigene Aufnahme 2007 Die städtebauliche Innenstadtumgestaltung Bukarests folgte dabei ausschließlich den Vorstellungen Ceausescus, der „in allen Projekt- und Ausführungsphasen“ (RADU 1993, S. 60) intervenierte und immer wieder Pläne ändern oder ihm nicht gefallene Konstruktio-nen abreißen ließ. Funktionale Aspekte beispielsweise der Verkehrsplanung fanden kei-nerlei Berücksichtigung (VOSSEN 2003, S.272f.). Im Zuge des Falls des Eisernen Vorhanges kam es auch in Rumänien zum Sturz des kommunistischen Regimes. Während der Revolution im Dezember 1989 wurde das Ehe-paar Ceausescu gestürzt und am 25. Dezember 1989 hingerichtet. Die Innenstadt Buka-rests glich zu diesem Zeitpunkt einer riesigen Baustelle: Das Haus des Volkes war zu 80%, der westliche Teil des Boulevards des Sieges des Sozialismus vollständig fertig gestellt. Die Bebauung östlich der Piata Unirii befand sich in unterschiedlichen Ausführungssta-dien (RADU 1993, S.61).

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Postsozialistische Stadtentwicklung (seit 1989/90)

Der Sturz Ceauşescus ermöglichte ab 1989/90 eine demokratische Entwicklung Rumä-niens. Das ganze Land befindet sich seitdem in einer tief greifenden postsozialistischen Transformation, die auch in der Bukarester Stadtentwicklung ihren Niederschlag fand und findet. Die dabei zu beobachtenden Entwicklungen entsprechen dabei den gene-rellen Grundtendenzen postsozialistischer Stadtentwicklung, wie sie auch in anderen ehemaligen sozialistischen Ländern festzustellen sind (BÄHR & JÜRGENS 2005, S.149f.). Bereits sehr früh kam es zu starken Verschiebungen in der Arbeitsplatzverteilung. Nach-dem Bukarest jahrzehntelang massiv industrialisiert wurde, erfolgten zu Beginn der 1990er Jahre im staatlichen Industriesektor massive Entlassungen: 1970 verzeichnete Bukarest 110.700 Industriebeschäftigte, 1982 waren es schon 477.900 und 1995 nur noch 313.500 (ELLEGER ET AL. 1999, S.95). Die freigesetzten Industriearbeiter fanden nur teilweise neue Beschäftigungsmöglichkeiten – folglich stieg die Arbeitslosenquote der Stadt an (ŞTEFOI 1996, S.2016). Nach der Wende wurde ebenso das Zuzugsverbot für die Stadt aufgehoben, woraufhin die Einwohnerzahl durch Zuwanderung kurzfristig anstieg. Der Wegfall der unter Ceau-şescu eingeführten massiven Geburtenförderungspolitik führte jedoch im gesamten Land zu einer negativen Bevölkerungsentwicklung (MÂNDRUŢ 2007, S.57). Dementspre-chend war auch die Einwohnerentwicklung Bukarest in der letzten Dekade vor dem Fall des eiseren Vorhangs leicht negativ (Diagramm 1). Das Problem der Wohnungsprivatisierung nach 1989/90 stellte sich in Bukarest und Ru-mänien nicht in dem Maße, wie in anderen sozialistischen Ländern, da bereits in den 1970er und 1980er Jahren ein Großteil der Wohnungen an die Mieter veräußert wurde (ELLEGER ET AL. 1999, S. 98). 1995 befanden sich rund 774.000 von 867.000 Wohnungen im Privatbesitz (ebenda). Als besonders problematisch stellt sich der Privatbesitz, gepaart mit der häufig unzureichenden finanziellen Ausstattung ihrer Besitzer, in Großwohnsied-lungen heraus. Die technische und soziale Infrastruktur der Viertel ist veraltet und funkti-oniert nicht mehr hinreichend, kann aber auf Grund der fehlenden finanziellen Mittel der Bewohner und des Rückzugs öffentlicher Institutionen nicht geleistet werden (VOSSEN

2001, S.20). Hierin liegt einer der dringendsten Handlungsfelder der Stadtentwicklung nach 1989/90. In der Innenstadt vollziehen sich hingegen höchst dynamische Entwicklungen: Hier kam es zu einer umfassenden Tertiärisierung mit der Entstehung von Banken, Büros, Unter-nehmensniederlassungen und Einzelhandelsgeschäften (ebenda: 21). In jüngster Zeit ist eine umfassende Aufwertung der Innenstadtbereiche, insbesondere des historischen Kerns Bukarests, feststellbar: Die Altbausubstanz wurde und wird vielfach renoviert sowie Straßen aufwändig neu gepflastert. Im September 2007 wurden in der Altstadt an wich-tigen Sehenswürdigkeiten große Informationstafeln in rumänischer und englischer Spra-che aufgestellt – Bukarest scheint damit den Stellenwert des Tourismus erkannt zu ha-ben, auch wenn immer noch ein Tourismusbüro in der Stadt fehlt. Die postsozialistische Transformation vollzieht sich zunehmend immer deutlicher auch an den Rändern der Stadt. Insbesondere im traditionell vornehmen Norden Bukarests ent-stehen neue Bauprojekte. Bereits in den 1990er Jahren entstand hier das Bukarester World Trade Center. Aber auch Suburbanisierungstendenzen führen zu einer Auflösung

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der für Städte im östlichen Europa so typischen scharfen Stadtränder – in Bukarest ent-stehen vor diesem Hintergrund neue Residenzparks, teilweise sogar gated communities und Einfamiliensiedlungen nach westlichem Vorbild (ebenda). Die größte städtebauliche Herausforderung stellt jedoch das unter Ceauşescu ange-fangene und immer noch nicht fertig gestellte „neue“ Stadtzentrum. Nachdem alle Arbeiten nach dem Sturz Ceauşescus zunächst eingestellt worden waren (RADU 1993, S.61), werden die Projekte langsam fortgeführt. Weite Bereiche, vor allem östlich der Piata Unirii, befinden sich jedoch auch heute noch teilweise im Rohbau (Abb. 3). Auch an dem ehemaligen „Haus des Volkes“ wird weitergebaut. Städtebaulich stellte sich bereits zu Beginn der 1990er Jahre die Frage, was mit dem unvollendeten Stadtzentrum geschehen und wie es zukünftig genutzt werden soll. Das „Haus des Volkes“ beispielsweise heißt heute „Parlamentspalast“ und wird multifunktio-nal genutzt: Hier befindet sich der Sitz des rumänischen Parlaments, ein internationales Kongresszentrum, das Museum für zeitgenössische Kunst und mehrere Ausstellungsräu-me. Mit mehreren städtebaulichen und architektonischen Wettbewerben wurde ver-sucht, Konzepte zu entwickeln, um die sozialistische Innenstadtbebauung in das restli-che Stadtgefüge zu integrieren. Der wohl bekannteste davon ist der 1996 durchgeführ-te Wettbewerb „Bucuresti 2000“, den ein Architekturbüro aus Hamburg gewann. Ihr Entwurf sieht vor, die architektonische Übermacht des Palastes durch Hochhausbebau-ung zu brechen, die monumentale Wirkung der sozialistischen Bebauung zu relativieren und in den Stadtkörper zu integrieren (ausführlich: VOSSEN 2001, S.21f.). Die Entwürfe konnten bisher allerdings auf Grund des Finanzmangels und teilweise heftigen Wider-stands von unterschiedlichen Seiten nicht realisiert werden. Abb. 3: Die unvollendete Nationalbibliothek im östlichen Teil der neuen Innenstadtbe-bauung

Quelle: eigene Aufnahme 2007

Fazit

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Bukarest ist heute vor dem Hintergrund der hier skizzierten Entwicklungen der sozialisti-schen und postsozialistischen Stadtentwicklung vor mehrfache Herausforderungen ge-stellt. In den knapp 40 Jahren der kommunistischen Herrschaft wurden gewachsene Stadtstrukturen radikal verändert und erweitert, so dass Bukarest heute von den Merk-malen der sozialistischen Stadt geprägt ist (hierzu: Heineberg 2001: 224). Hier stellt sich die akute Frage nach dem adäquaten Umgang mit diesem sozialistischen städtebauli-chen Erbe unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Hinzu kommen unterschiedliche, teilweise problematische Tendenzen postsozialistischer Stadtentwick-lung wie die Suburbanisierung, Tertiärisierung, aber auch gesellschaftliche Polarisierung im Rahmen einer kommerziellen Stadtentwicklung. Auch hier stellt sich die Frage nach angepassten Lösungen, insbesondere im sozialen Bereich. Denn es sind eben nicht nur Werbeplakate an den Häuserfassaden, die das heutige Stadtbild Bukarests bestimmen, sondern auch bettelnde Straßenkinder und Rentner, die zu den Verlierern der postsozia-listischen Transformation gehören. Es bleibt abzuwarten, ob Bukarest, die Hauptstadt des seit dem 1. Januar 2007 zur Europäischen Union gehörenden Rumänien, diesen Herausforderungen gewachsen ist. Literatur: BÄHR, J. UND U. JÜRGENS (2005): Stadtgeographie II. Regionale Stadtgeographie. Braun-

schweig.

ELLGER, C. ET AL. (1999): Budapest und Bukarest. Systemwechsel und städtebauliche Transformation. Stadtgeographisches Geländepraktikum 1997. Ergebnisbericht. Berlin (= METAR – Manuskripte zur empirischen und theoretischen und angewand-ten Regionalforschung, Band 36/1999)

HEINEBERG, H. (2001): Stadtgeographie. Paderborn (= Grundriß Allgemeine Geographie)

KUNZE, T. (2000): Nicolae Ceauşescu. Eine Biographie. Berlin

LIEBMANN, H. UND W. RIETDORF (2001): Großsiedlungen in Ostmitteleuropa zwischen Gestern und Morgen. Vergleichsforschung zu Genesis, Status und Perspektive von ausge-wählten Großwohnsiedlungen in sechs Hauptstädten. In: Europa Regional 9/2001: 78-88

MÂNDRUŢ, O. (2007): Geografia României. Manual pentru classa a VIII-a. Bukarest

NATIONAL BANC OF ROMANIA (o. J.): Foreign Direct Investments in Romania as of 31 De-cember 2005. Online unter: http://www.bnro.ro/En/Statistica/FDI/eFDI2005.pdf (29.11.2007)

NERDINGER, W. (Hrsg.) (2001): Moderne in Bukarest: 1925-1945. Ein Architekturführer. Salz-burg

RADU, F. (1993): Bukarest – Fragmente eines Kriegstagebuchs. In: Werk, Bauen + Wohnen 48 (1993), H. 3: 59-61

SĂGEATĂ, R. (2002): The administrative-territorial organisation of the city of Bucharest. Evolution and optimisation proposals. In: Revue roumaine de géographie, 45-45 (2001-2002): 153-165

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ŞTEFOI, E. (1996): Übergangsökonomie und städtischer Alltag. In: StadtBauwelt 36, Sept. 1996, 87. Jg.: 2016-2023

TURNOCK, D. (1990): City Profile – Bucharest. In: Cities, 7, 1990: 107-118

VERSECK, K. (2001): Rumänien. München

VOSSEN, J. (2001): Bukarest: Rumäniens Hauptstadt im Übergang zum 21. Jahrhundert. In: Geographische Rundschau 53 (2001), H. 11: 18-22

VOSSEN, J. (2003): Bukarest. Die Entwicklung eines Stadtraums. Berlin

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Living dysfunctions in peripheral urban regions

Case study of the Pipera neighbourhood (Bucharest Metropolitan Area – Romania)

By: Diana Andreea Onose and Roxana Andreea Carcale

Introduction Urban periphery is recognized in Romania as a subsystem of the territorial system, as an urban-rural interface, a phenomenon of urban structure discontinuity (vgl. STAN 2008). Peripheral growth represents an extension of the urban area over the rural proximity, which leads to resources depletion. Generally, periphery is often accompanied by a bad reputation representing an area, which suffers of lack of importance. In Romania, urban periphery represents a new subject of study. The main reason of its growing importance being the fact that “it seems to be the place where one can find important parts of the unresolved social problems of the politics of redistribution in a concentrated manner” (vgl. SECCHI 1991; vgl. SARBU 2005). The aim of this study is to identify the favorability and restrictivity factors, which influence the quality of living in the Pipera neighbourhood, an urban periphery in the proximity of Bucharest, and to propose some ways for its improvement. The amplification of urban development determined by the fast expansion and the reduction of the support ca-pacity of the territorial systems makes the analysis of living dysfunctions a method of quantification of the quality of life (vgl. MARINESCU 2005). In this context, the question arises whether this area is confronted with problems of social segregation or represents another model of peripheral development.

Data and Method Study area. Pipera neighborhood is located in the north–east of Bucharest, belonging from the administrative point of view to municipality of Voluntari. It represents a pe-ripheral urban area both for Voluntari town and for Bucharest, Romania's capital city. The area of study is located in the Romanian Plain. The Pipera neighborhood is delimi-ted in south by the railroad Bucharest - Constanta, in west by Pipera Plain Road and Vadul Moldovei Street (the eastern limit of Bucharest), in north by Soseaua de Centura of Bucharest, and in east by a small branch of Saulei Valley.

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Fig. 1 Geographical Localization – Pipera neighborhood

Source: Author’s mapping The geological substrate is mainly composed from loessoide deposits, characterized by the appearance of the ramming process. These deposits may lead to the emergence of problems at the time of arranging large dimension buildings, the construction and maintenance costs increasing significantly (vgl. IOJA 2008). In this area, land works were realized so that the soil could be initially used as agricultu-ral land and later on for developing residential areas. These actions changed the ap-pearance of the micro relief. The hydro technical works carried out on Colentina River (located south of the studied area) in order to realize a flow adjustment has significantly altered the dynamics of the relief (Local Action Plan for the Environment, 2005). The active surface has a complex structure: buildings with different heights, lakes and green spaces, street network; all these determine the appearance of different microc-limates. Native soils in the area are included in luvisols class, but following the anthropic inter-vention, they were deteriorated on large surfaces. Pipera neighborhood is situated between the temperate broadleaf forests and the pontic steppe. The flora and fauna have been profoundly transformed by the urban growth. In time, legislative changes have occurred regarding the administration of the national territory as the area under study has successively belonged to Bucharest Ilfov Country and Agricultural Ilfov Country. In 2004 the former Voluntari village incorporated Pipera as a neighborhood.

Method

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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We have used topographic maps and satellite images in order to identify the changes that have occurred in the land use between 1976 and 2009. They cover Pipera neigh-borhood and the adjacent areas, including the two international airports located nearby. The most important changes in the land use took place after the year 2000. The diffe-rent types of land use in this area are: built areas, forest, orchards, agricultural land, degraded land, airport and water bodies. In addition, there were made some observa-tions regarding the technical endowment of utilities, the accessibility to services and major dysfunctions affecting the quality of life. We used the HRS model (Hierarchical Regional Space Model) (vgl. HENDERSON 1999, vgl. QI YE 2004) which considers that the urban space comprises the very intense built-up urban centre which often surpasses the functional center of the city and a peripheral area. The urban center highly influences “centripetaly” but also “centrifugaly” through the modifications that imposes the landscape structure and the ecosystem’s functionality of nearby areas (vgl. COCEAN 2007). The centrifugal influence is felt at the level of the flows of raw materials, energy and population that emerge between the two areas – mobility for work in the urban area, commercial influence, etc.

Results Comparing the data resulting after processing the information provided by the to-pographic maps from the year 1976 (fig 2a) and the satellite images from the year 2009 (fig 2b) one can see significant changes in both the land use and the fulfilled functions within the territorial system.

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Fig. 2: land use in Pipera neighborhood (year 1976 – a, year 2009 / b)

Source: Author’s mapping Three decades ago, this area (Pipera village, in that time) consisted mainly of agricul-tural land (see table 1). The land for agricultural activities representing over 57% of the total area. An important surface was occupied by the forest with approximately 31% of the area. The built-up area was rather small with 3,8% of the total surface of the Pipera Neighbourhood. Pipera represented a rural area situated near Bucharest and evolved under its influence. Before 1989, the polarizing role of Bucharest was obvious, the interconnections bet-ween the fields of activity leading to the dependence of the settlements in the subur-ban area and an unidirectional orientation towards the capital. After 1989, business dynamism and other types of functions led to an even stronger centralisation of rela-tions between the capital and its metropolitan area (vgl. PATROESCU 1994, vgl. REY 2006). Throughout Europe in the 1990s, changes in land cover were mainly characterized by increases of urban development at the expense of agricultural land and natural areas (vgl. EUROPEAN COMMISSION 2006). Residential development registered a real „explosion” in the metropolitan area of Bucharest (vgl. NITA 2008). Thus, the surface currently occu-pied by the urban built-up area rose to 33% compared to 4% in 1976. Especially agricul-tural territory has been changed and converted extensively. Nowadays agricultural land makes up only 25% of the total area. Three decades ago it used to occupy almost 60% of the total area of Pipera. The forest-zone maintained its area, but gradually de-graded around the edges. It can be observed that one type of agricultural land use has disappeared. Here we can include the orchards, their former has been transformed into urban built-up spaces. Furthermore there are new types of land cover, e.g. the airport area (that have expand in time) and the so-called degraded land.

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Table 1 – Land Use in Pipera neighbourhood in 1976 and 2009 (%)

Forest Orchard Crops Water Bodies Urban Degraded

Land Airport

1976 31.63 3.86 57.15 1.89 3.80 0 0

2009 31.90 0 25.45 2.09 33.29 4.94 2.32

Change of the neighbourhood The main favourability factor that characterizes the region is represented by the geo-graphical location, in a plain area, with a flat relief, climate without excessive shades and water resources in excess indicating the area as suitable for settlement develop-ment. In addition, the location close to Bucharest represented an important impetus for the economic development. Pipera is located in the northern part of Bucharest, which has developed much faster than the territory situated in the south of the capital. This development is due to the fact that there’s no important industrial units which could affect the neighborhood. In addi-tion, Pipera developed along one of the arteries that make the connection between Bucharest and Prahova Valley, the main tourist area where the inhabitants of the capi-tal spend their weekends. The street network is well developed. The area is served by Pipera-Tunari Street that connects with Bucharest. In addition, there are roads that make the connection with DN1 (National Road 1). Pipera is located nearby the two airports that serve Romania’s capital - “Henri Coanda” International Airport and “Aurel Vlaicu” International Airport (fig 3). Also through the southern extremity passes the railroad Bucharest - Constanta. Fig. 3: Localization of Pipera neighborhood in relation with the airports from the metropolitan area of Bucharest

Source: Author’s mapping

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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The Pipera neighborhood has gained a lot of new services in recent years. Field obser-vations highlighted the presence of a large number of banks, pharmaceutical centers, restaurants and shops with products for interior design. This goes along with a socio-spatial differentiaton in the neighbourhood meaning an inflow of a new strata of inha-bitants that could be observed during the fieldwork. From the administrative, judicial and functional point of view Pipera still depends on Bucharest and Voluntari. Therefore, there are only essential utilities like a kindergarten, a school, two medical centers and a police unit. The deficit of commercial centers is sol-ved by the presence of the Commercial Center of Baneasa and other commercial areas in the proximity. The intensive residential development led to the construction of a high number of resi-dential units, including both single-family houses and collective housing in a relatively small area. The new residential units have electric grid, natural gas, water and septic tanks. The new residential units of Pipera are: Bacovia Residence, Lake Side Residence, New Pearl Mediteraneo, Pipera 2, Baneasa Residential Park, Madrid Residence, High Resi-dence, Liziera Residence, Oxford Gardens, Green Vista, My Dream Residence, Ibitza Residence, Ibitza Sol (fig5). Most of these units include residential apartments with 3 or 4 rooms and studios. Fig. 4: Diversity of services in Pipera neighbourhood

Source: Author’s mapping

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Living dysfunctions

The main dysfunctions identified in the study area are those related to: Drainage sys-tem, oxygenated surfaces, noise, air quality and waste management.

Drainage system According to the Development Strategy 2007-2013, the major water and sanitation operator in Voluntari town is “SC Salubritatea Apasi Canal Voluntari”. Field observations have highlighted failures in relation with this system that is not yet put in place in pe-ripheral areas where new residential parks are built. With the increase of housing fund, the drainage system could create problems by flooding the street and the houses loca-ted in vulnerable areas.

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Source: Author’s mapping

Oxygenate surfaces Pipera neighborhood does not have a network of green spaces such as parks, public or private gardens. The only green space is a square located in front of the main church. The only larger green space is the Tunari forest which is seriously threatened especially by the intense development of residential areas in the recent years. The main develo-pers of housing did not pay attention to the creation or conservation of greenery due to the fact that they want to maximize the profit of the existing plots. The high land pri-ces have reinforced this trend. Therefore, no major residential areas meet the standards for greenery in an urban settlement which means that the ratio between built-up area

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and green spaces is supposed to be 60-40%. It can be expected that this will be a ma-jor source of problems in the future since green spaces have a great importance in reducing noise pollution, but also in the absorption of various pollutants caused by the traffic and other activities of a metropolitan area (vgl. IOJA 2008). Fig 6: Processing System of collecting residual water in absence of a drainage system

Fig 7: The traffic on Pipera Tunari Street

Source: Author’s pictures

Noise This is one of the most important issues of the actual urban ecosystems. In general, background noise is mostly produced by traffic. The Pipera Tunari Road is the most im-portant traffic artery that traverses this area. Thus, according to STAS 10.144 the limit permited for the equivalent continuous noise level (Leq) is 70dB. This level of noise is frequently exceeded, especially during weekends, when a large part of the capital's population heads for the mountainous areas and therefore uses this exit. Vehicles that transit the area are cars, vans, small buses and large vehicles. The traffic is also very intense on the Pipera Tunari Street, Pipera Avenue and Erou Iancu Nicolae Street. The level of noise is also increased by the one due to the aircrafts that take off and land on the two airports in the area and by the one generated from the construction works which have a high frequency in this area.

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Fig 8: Uncontrolled waste deposits

Source: Author’s picture

Air quality Air pollution is a serious problem in the Pipera neighbourhood because of the high a-mount of pollutants generated by the road traffic, the micro dust from the construction works and the quantitative and qualitative deficit of green spaces. In addition, an im-portant factor is represented by the fact that only the main streets are made from as-phalt, and also the street system of the new residential areas is not finished yet. Fig 9 – Built-up area expansion on agricultural land Source: Author’s picture

Waste management The company that manages the waste in Pipera is Romprest. The management system is not appropriately put in place; there is no separate collection system and the contracts between private persons and service provider conclude with delay. Another problem is caused by the construction waste that is collected at irregular intervals, forming uncontrolled deposits that become a source of degradation for the air quality and the landscape in general.

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Conclusion The main elements of vulnerability identified in the peripheral urban area Pipera refer to: Floods - due to the under dimensioning of the drainage system and to the fact that many constructions were placed in areas where flood risk hasn’t been reduced through hydro technical works; The „explosion” of the built-up area resulting in modifications of the land capacity use and the coefficient of land use. The green surface per capita and drastic interventions in the landscape; Uncontrolled population growth – the acce-lerate growth of the population leads to a deterioration of the quality of certain envi-ronmental factors. For an improvement of the life quality some things need to be done: The extension of the drainage system The enhancement of the asphalting works of the street network The arrangement of the green public spaces and other types of oxygenate surfaces Implementation of an integrated management waste system In conclusion, the former rural area of Pipera has turned into an urbanized suburb in a few years, with high accessibility to services, with a dynamically developing residential areas and environmental issues specific to urban areas. Changes to the land use have changed the functional profile of the neighbourhood. Pipera presents a typical setting for a suburban area in which the working population from Bucharest is able to flee.

Literature: CENAC-MEHEDINTI M. (2000), Mediul metropolitan al Municipiului Bucuresti intre renaturare

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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Stadtstrukturen und Stadtentwicklungspolitik Istanbuls: Kultur als Imagefaktor – die Vermarktung Istanbuls als Me-ga-City zwischen Orient und Okzident

Von: Laura Wenz

Einleitung Istanbul, Zentrum der größten Metropolregion der Türkei, befindet sich durch die Öff-nung globaler Märkte in einem umfassenden urbanen Restrukturierungsprozess. Die Stadt am Bosporus ist seit der Byzantinerzeit ununterbrochenes Ziel unzähliger Waren-, Geld- und Migrationsströme, welche sie stetig formen. Doch seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Eroberung der östlichen Märkte erhebt Istanbul durch seine daraus erwachsene gateway-Funktion auch Anspruch auf einen Platz im Netzwerk der global cities. Um sich diesen Platz zu sichern, setzt Istanbul neben dem Ausbau als Dienstleistungs- und Finanzmetropole zwischen Europa und Asien auf die Stärkung sei-ner cultural industries als weiche Standortfaktoren und erhofft sich so steigende Touris-tenzahlen. Welche Chancen und Risiken die „Marke Istanbul“ für die moderne Stadt-entwicklung birgt, wird nachfolgend diskutiert.

Schlaglichter der Stadtentwicklung Schon vor rund 1700 Jahren seit 324 n. Chr. ist Istanbul, damals noch unter dem Namen Konstantinopel, als Hauptstadt des Römischen Reichs Konzentrationspunkt religiöser und politischer Macht und Kulturzentrum des Byzantinismus. Diese Vormachtstellung behält die Stadt auch während der osmanischen Herrschaft von 1453 bis 1923, trotzdem sie sich nach großen Gebietsverlusten der Osmanen die meiste Zeit als Stadtstaat fungiert. Von Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts muss Istanbul zum ersten Mal in der neue-ren Geschichte einen Machtverlust hinnehmen – in dreifacher Hinsicht. Mit der Grün-dung der türkischen Republik am 29. Oktober 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk fällt die Hauptstadtfunktion an das zentral-türkische Ankara, die Entstehung des Eisernen Vorhangs beschneidet Istanbuls Marktzugang nach Osten und die kemalistisch-zentralistische Wirtschaftspolitik leitet eine Phase der Stagnation ein. Die Bevölkerungs-zahlen gehen – auch auf Grund der Einflüsse des 2. Weltkriegs – zurück. Erst durch die Implementierung des Marshall-Plans gewinnt Istanbul wieder an wirt-schaftlicher Zugkraft wie auch an Bevölkerung in Form anatolischer Migranten, welche die alte Bürgerschicht immer weiter zurückdrängen und das Stadtbild Istanbuls fortan ihrem religiös geprägtem Lebensstil anpassen (vgl. UZUN 2001, S. 63f). In dieser Phase des ungebremsten und ungeplanten flächenbezogenen Wachstums werden auch große Teile der historischen Stadtstruktur durch eine Verdichtung der Wohnquartiere zerstört, bis 1963 zum ersten Mal ein Regionaler Entwicklungsplan für die Marmara-Region auf-gestellt wird. Er soll eine Steuerung und Koordinierung der Stadtentwicklung ermögli-chen (vgl. BAYHAN, S. 14). Zu Beginn der 1980er Jahre verabschiedet sich die Türkei von ihrer vormals protektionistischen Wachstumsstrategie und orientiert sich verstärkt an den Tendenzen der globalen Marktwirtschaft. In Istanbul wird dadurch eine Spirale aus nati-onalen und internationalen Geld-, Waren- und Menschenströmen in Gang gesetzt, die

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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den Zuzug anatolischer Landbevölkerung beschleunigt, die Investitionstätigkeit erhöht und damit die Stadtentwicklung beschleunigt (vgl. SEGER U. PALENSCAR 2003, S. 75). Wel-che gewollten und ungewollten städtebaulichen Folgen sich daraus ergeben und mit welchen Strategien ihnen begegnet wird, soll im Folgenden am Beispiel der Kulturindust-rie diskutiert werden. Abb.1: Stadtraum Istanbul Quelle: UNESCO 2003

Aktuelle Entwicklungen Die Region Istanbul erstreckt sich auf einem Gebiet von 5.512 km2 mit einer Bevölke-rung, die der Zensus vom Jahr 2000 offiziell auf 10,5 Mio. Einwohner beziffert, jedoch selbst von Seiten des Stadtplanungsamts auf mindestens 14 Millionen geschätzt wird (vgl. TURKSTAT 2005). Das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Zentrum Istanbuls erstreckt sich entlang der Wasserwege: Die historische Halbinsel Eminönü und das gründerzeitlich geprägte Beyoğlu liegen südlich und nördlich der engen Bucht des Haliç („Goldenes Horn“) und das asiatische Zentrum breitet sich mit Üsküdar und Kadıköy am östlichen Ufer des Bosporus aus. Istanbul besitzt nicht nur eine Hauptversorgungsfunktion für die angrenzende Marmara-Region, sondern dient als zentraler Verkehrsknotenpunkt von

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Luft-, Schienen-, Strassen- und Wasserwegen. Mehr als ein Drittel der industriell-gewerblichen Produktion und fast die Hälfte der Wertschöpfung im Dienstleistungsbe-reich der Türkei werden im Großraum Istanbul erwirtschaftet, wobei seit Mitte der 1980er Jahre die verarbeitende Industrie verstärkt im anatolischen und trakischen Umland an-gesiedelt wird um mehr Raum in der Stadt für die im Zeitalter der Globalisierung stark an Bedeutung gewinnenden Dienstleistungsfunktionen zu schaffen (vgl. SEGER U. PALESCAR 1999, S. 568f). Istanbuls Bedeutung als wichtigstes Dienstleistungs- und Finanzzentrum der Türkei lässt sich auch an den Immobilienpreisen ablesen: Im Central Business District von Şişli sowie in den nördlicher gelegenen neuen Geschäftszentren an der Maslak-Straße werden Preise von 20 000 USD pro Quadratmeter gezahlt, was sich mit den Preisen in Manhattan und der Londoner Innenstadt vergleichen lässt (ESEN 2007). Die Idee eines ‚globalen Istanbuls’ wird dabei nicht nur von der Stadtregierung verfolgt, sondern als Ideal der Stadtentwicklung vom gesamten politischen Spektrum gleichermaßen geteilt. „Even the ones which oppose globalization [...] accepted that Istanbul should attract foreign capital“ (ERKIP 2000, S. 374). Die Folgen dieser ungebremsten Kapitalisierung werden in Istanbul durch ein zuneh-mendes Verkehrs- und Umweltproblem deutlich: Zweimal pro Tag staut sich der Verkehr am Nadelöhr der beiden Bosporusbrücken auf mehreren Kilometern und Busse, Stra-ßenbahnen und Fähren sind fast zu jeder Tageszeit überfüllt von Menschen auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen, die sich auf die Geschäftszentren nördlich des Goldenen Horns konzentrieren. Die Tragfähigkeit der Infrastruktur wird auch durch den ungebrems-ten Zuzug anatolischer Migranten in Frage gestellt, die mit ihren „illegalen“ Siedlungs-strukturen (Gecekondu-Siedlungen) schon bis an die nördlichen Wasserschutzgebiete vorgedrungen sind (vgl. IMP 20062). Dieser Bevölkerungsdruck an den peripheren Berei-chen der Stadt wird noch durch innerstädtische Migrationsprozese und sozialräumliche Fragmentierung verstärkt: Die ärmere Bevölkerung, die noch in den 1990er Jahren güns-tigen Wohnraum im historischen Stadtzentrum finden konnte, wird durch umfassende Stadterneuerungs- und Sanierungsmaßnahmen an den Stadtrand verdrängt. Erste An-zeichen von Gentrifizierung werden deutlich. Zur sozialräumlichen Segregation im „kul-turellen Dreieck“ (IMP 20061, S. 3) zwischen Eminönü, Beyoğlu und Kadıköy tragen vor allem die Entwicklungsvorhaben im Bereich der ‚cultural industries’ bei.

Cultural industries Den folgenden Ausführungen liegt die Definition der UNESCO 2006 zugrunde: „Cultural Industries are defined as those industries which produce tangible or intangible artistic and creative outputs, and which have a potential for wealth creation and in-come generation through the exploitation of cultural assets and production of know-ledge-based goods and services” (Unesco 2006). Dass im Zeitalter der Globalisierung das Image einer Stadt immer weiter in den Fokus für Standortentscheidungen rückt, haben auch die Stadtplaner Istanbuls erkannt: „Cultural industries [...] are considered to be among the most powerful strategic sectors and capable of increasing the competi-tive power of cities vis-à-vis the dynamics of globalization ... In this rather fierce climate of competition, cities develop strategies to re-structure their economies in which cultu-ral industries or creative sectors are given a prominent role“(IMP 20061, S. 2). Neben wichtigen Standortentscheidungen anderer Teile der Kulturwirtschaft ist der Tou-rismus einer der Schwerpunktbereiche der cultural industries. Istanbuls Potenzial liegt dabei in seiner 2000-jährigen Geschichte begründet, die sich vor allem auf der histori-

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schen Halbinsel noch großräumig erfahren lässt: Mit dem Topkapı-Palast, der Hagia So-phia, der Suleimaniye-Moschee (‚blaue Moschee’) und der Landmauer befinden sich allein vier Objekte mit dem Status UNESCO-Weltkulturerbe auf engstem Raum. Außer-dem liegt mit dem großen Bazar ein weiterer Tourismusmagnet in der Nähe. Das an-grenzende Laleli-Viertel bildet den Schwerpunkt für Istanbuls Hotellerie, die in besonde-re Kultur-Touristen als Zielgruppe betrachten (vgl. SEGER U. PALENSCAR 2003, S. 83). Istanbul verzeichnete 2006 eine Zahl von 2,42 Millionen Besuchern, allerdings haben sich die Ankunftszahlen zwischen 1995 und 2001 um nur 25% verdoppelt, wohingegen die restli-che Türkei einen Anstieg von mehr als 50% verzeichnen konnte (vgl. CERACI U. KERIMOGLU 2005, S. 4). Die Chance für Istanbul liegt daher in den sich verändernden Verbrauchergewohnhei-ten der Touristen, die verstärkt Wert auf örtliche Authentizität und Seltenheit legen. Das Erleben einer anderen Kultur zählt heute zu den Hauptreisegründen und 37% aller inter-nationalen Reisen in die Türkei beinhalten eine kulturelle Komponente (WTO 2006 nach IMP 20061). Die historischen Wahrzeichen sollen in Verbindung mit dem Ambiente der türkisch-islamischen Gegenwartswelt, der Perzeption eines fremden Kulturkreises, dem Großstadtambiente und dem orientalischen Einkaufserlebnis zum Warenzeichen der ’Marke Istanbul’ ausgebaut werden (vgl. IMP 20061; SEGER U. PALENSCAR 2006). Besonders stark wirkt hierbei die konstruierte Dichotomie von Orient und Okzident, die den frem-den Kulturkreis für westliche Touristen attraktiver machen soll. Eng mit dem Tourismus verbunden ist der Themenbereich Ökologie und diesbezüglich vor allem die Sauberkeit der Stadt. Um die Erhöhung der ökologischen Attraktivität des Stadtzentrums machte man sich schon Anfang der 1980er Jahre Gedanken: Die Indust-rie zu beiden Seiten der Ufer des Goldenen Horns wurde geschlossen in periphere In-dustrieparks umgesiedelt, die Uferzonen zur Freizeitlandschaft umgestaltet und die Re-naturierung der Gewässer in der Bucht in Angriff genommen (vgl. SEGER U. PALENSCAR

2003, S. 83). Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen wie das Goldene-Horn-Projekt tragen jedoch nicht ausschließlich zur Verbesserung der Lebensverhältnisse bei, sondern beschleunigen auch urbane Transformationsprozesse: Das Gesetz zur Sanierung von Gebieten mit his-torischer Bausubstanz ist seit zwei Jahren in Kraft und hat seitdem eine Sanierungswelle nicht nur auf der Halbinsel von Eminönü, sondern auch in Beyoğlu nördlich des Golde-nen Horns nach sich gezogen (vgl. ESER 2007) und ist Ausdruck eines historisch begrün-deten Selbstverständnisses der Stadt, die sich als Metropole mit gelebtem Erbe versteht. So werden vor allem gründerzeitliche Bausubstanz und Straßenzüge mit Blick auf den Bosporus von finanzstarken privaten und öffentlichen Investoren saniert, was einerseits Bausubstanz erhält und andererseits Miet- und Immobilienpreise in die Höhe treibt. Ein bis heute anhaltender Gentrifizierungsprozess wurde in Gang gesetzt – mit weit rei-chenden Folgen für die sozialräumliche Struktur. Die einkommensschwache, anatoli-sche Zuwanderungsbevölkerung, die sich seit den 1970er in den unrenovierten Woh-nungen der Altstadt niedergelassen hat, muss nach und nach einer wachsenden Mit-telschicht weichen, die immer mehr innenstadtnahen Wohnraum nachfragt. Die Schicht der ehemaligen Migraten besteht jedoch nicht nur aus einkommensschwa-chen, sondern auch aus einer etablierten und erfolgreichen Mittelsschicht, die selbst zum Gentrifizierungsprozess beiträgt. Diese Entwicklung bezieht sich momentan nur auf einzelne Viertel (z.B. Teile von Beyoğlu und Üsküdar), weshalb sich weiterhin bezahlbarer Wohnraum im Stadtzentrum insbesondere in den Vierteln Eminönu und Fatih finden lässt

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und dadurch die sozial-kulturelle Durchmischung noch aufrechterhalten wird (zum Thema Gentrification in Istanbul vgl. UZUN 2001, sowie DOKMECI U. OZUS 2005).

Schlussbetrachtung Oberstes Kultur-Ziel der Stadt ist es, Istanbul zu einem ganzjährigen Reiseziel auszubau-en. Mit der Veranstaltung internationaler Festivals und Kunstausstellungen wie der er-folgreichen Istanbul-Biennale, die im Jahr 2007 zum zehnten Mal stattfand, ist die Stadt auf einem guten Weg ihre Gästezahlen zu steigern. Dabei auf eine Kombination aus orientalischer Atmosphäre und westlichem Standart zu setzen entspricht den Ansprü-chen westlicher Touristen. Allerdings darf dabei keine Monostrukturierung der historischen Halbinsel – weder kultur- noch wirtschafts- und sozialräumlich – erfolgen, denn lokale Identität kann nicht allein durch eine historisch-orientalische Fassade verkörpert werden, sondern lebt vor allen Dingen davon, dass verschiedene Menschen sie mit Leben füllen. Gegen eine nachhaltige funktionale Transformation zur Verbesserung der Lebensquali-tät und zum Schutz des historischen Allgemeinguts ist nichts einzuwenden, so lange sie zur Multifunktionalität der Stadträume beiträgt und eine polyzentrische Entwicklung ver-folgt. Stadtteile wie Kadıköy und Üsküdar auf der asiatischen Seite werden zwar in der Planungsstrategie erwähnt, jedoch richten sich die Maßnahmen weitestgehend auf den europäischen Teil. Auch in Anbetracht des vielfach diskutierten Urban Governance-Prozesses, der zu einer Fragmentierung der Verantwortlichkeiten durch den steigenden Einfluss privater Inves-toren führt, muss eine kohärente Stadt-Strukturpolitik betrieben werden, die keine Seg-regationsräume entstehen lässt (vgl. UZUN 2007 u. ESEN 2007). Wenn beide Seiten des Bosporus für einen nachhaltigen Tourismus gleichermaßen ent-wickelt würden, könnte die Stadt zwischen Orient und Okzident ihre Einzigartigkeit noch besser unter Beweis stellen.

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TEIL I: STADTENTWICKLUNG IN METROPOLITANEN REGIONEN

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TEIL II: SPANNUNGSFELDER ZWISCHEN ÖKOLOGIE UND ÖKONOMIE

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TEIL II: SPANNUNGSFELDER ZWISCHEN ÖKOLOGIE UND ÖKONOMIE

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Teil II Spannungsfelder zwischen Ökologie und Ökonomie

Stadtökologie in der Megacity – Herausforderungen und Lösungsansätze am Beispiel Istanbul

Von: Heike Gieselmann

Einleitung und Begriffsklärung Megacities als Städte mit weit über 10 Millionen Einwohnern und starkem Bevölkerungs-wachstum stehen vor fundamentalen Herausforderungen nicht nur in der klassischen Stadtplanung, sondern auch in Bezug die Stadtökologie. Hierbei geht es um die Le-bensqualitätsverbesserung für die Einwohner, teils mit existenziellem Ausmaß, aber auch um den Schutz der Umweltmedien Wasser, Boden und Luft. Die Problemfelder umfassen all diese Bereiche in verschiedener Ausprägung. Um stadtökologische Problemfelder am Beispiel Istanbul näher zu beleuchten, soll zuerst die Verwendung der Begriffe „Stadtökologie“ und „Megacity“ geklärt werden. Grundsätzlich sind zwei Denkrichtungen zu konstatieren: ein analytisches und ein nor-matives Verständnis von Stadtökologie. Die analytische Stadtökologie sieht sich traditi-onell als Unterzweig der Biologie, sie untersucht die Umweltmedien und Lebewesen so-wie ihre Wechselwirkungen im städtischen Umfeld (vgl. MEURER 1997, S. 275). Die Stadt als eine von Menschen geprägte Umgebung bleibt bei rein naturwissenschaftlicher Vorgehensweise unverstanden (vgl. HARD 1997, S.100). In diesem Zusammenhang wurde die Forderung nach Einbeziehung sozialwissenschaftlicher, etwa hermeneutischer oder diskursanalytischer Methoden laut. So wird der Blick darauf gelenkt, welches Verständ-nis von Natur die unterschiedlichen Akteure vertreten, und warum verschiedene For-men von „Natur“ in der Stadt unterschiedlichen Stellenwert genießen. Die normativ-planerische Forschungsrichtung befasst sich mit der Umsetzung von „öko-logischer Stadtentwicklung“(vgl. HARD 1997, S.100). Eine Zielformulierung lautet: „Die ökologische Stadt soll die menschliche Gesundheit nicht schädigen, ihr Umfeld nicht belasten und soll auch in ihrem Inneren die Entwicklung von Natur ermöglichen.“ (WITTIG

ET AL. 1995 zitiert nach MEURER 1997, S. 276). Die heute als „Megacities“ bezeichneten Städte bilden häufig das Gegenteil von dem Ideal einer mit Rücksicht auf ökologische Ansprüche geplanten Stadt, wie bspw. das Modell der Gartenstadt. Mit einer Einwohnerzahl von über 10 Millionen Menschen und Wachstumsraten, die teilweise zu einer Verdopplung der Bevölkerung innerhalb von 15 Jahren führen, sind diese Städte, von denen nur wenige in „fortgeschrittenen Volkswirt-schaften“ zu finden sind, oft der einzige Wachstumspol im Land. Die sehr zentrale Sied-lungsstruktur und der rasante Zuwachs bilden zusammen mit einer finanziell wie organi-satorisch in der Regel überforderten Stadtverwaltung die Grundlage zur Herausbildung folgender stadtökologischer Problemfelder: Wasserver- und -entsorgung, Energieversor-gung, Abfallwirtschaft, Verkehr und Spontansiedlungen (vgl. KNOX ET AL. 2001 S. 518 f.). In

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TEIL II: SPANNUNGSFELDER ZWISCHEN ÖKOLOGIE UND ÖKONOMIE

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diesen Bereichen werden die Zielformulierungen der „Ökologischen Stadt“ oft missach-tet.

Problemfelder Istanbuls Istanbul hat seit Jahren mit den Problemfeldern Wasser, Verkehr und Spontansiedlungen zu kämpfen.

Wasser Die Grundwasserversorgung Istanbuls wird von der geographischen Lage bestimmt. Die Nähe zum Meer lässt die Grundwasserreservoirs schnell salzig werden und deckt damit nicht in ausreichendem Maße die Nachfrage. So wurde folglich seit Anbeginn der Sied-lung das Trinkwasser weit außerhalb der Stadt in Stauseen gesammelt und über Aquä-dukte in Zisternen geleitet. Heute geschieht dieser Transport über ein Rohrleitungssys-tem. Bis Anfang der 1990er ging in Istanbul, wie auch in anderen Städten ein Großteil des raren Trinkwassers über das marode Leitungsnetz verloren. Dringend notwendige Investitionen wurden hier bis in die 1990er nicht getätigt, auch weil eine Weiterentwick-lung Istanbuls politisch nicht gewollt war und dringend benötigte Geldmittel stattdessen nach Ankara geleitet wurden. Damit kam es 1989/90 infolge jahrelanger Übernutzung der Stauseen und zweier sehr trockener Sommer zu einer dramatischen Wasserknapp-heit in der Stadt. Nach dieser akuten Situation wurde das Netz saniert, neue Stauseen und Wiederaufbereitungsanlagen angeschlossen. Zudem besteht eine nach Stadtteilen stark differierende Wasserversorgung. So finden sich in reicheren Gegenden, die eine hervorragende Versorgung mit Trinkwasser vorweisen, Swimmingpools, während Ar-menviertel, die durch Marginalsiedlungen charakterisiert sind, eine mangelhafte Was-serversorgung vorwiesen, sodass bis vor wenigen Jahren zahlreiche Bewohner mit einer zentralen Entnahmestelle, die Wasser zweifelhafter Qualität lieferte, begnügen mussten (vgl. STANDL 2003, S.11 f.). Neben der Versorgung besteht auch das Problem der Entsor-gung von Abwässern, was jedoch auf Istanbul nur teilweise zutrifft. Die Wasserentsor-gung der Marginalsiedlungen verläuft über offene Abwasserkanäle, die nicht unbe-dingt eindeutig vom Trinkwasser getrennt sind, so dass auf diese Weise zahlreiche Infek-tionskrankheiten übertragen werden. Dabei spielen nicht nur die Abwässer der Privat-Haushalte, sondern auch die der Industrie eine bedeutende Rolle. Mangelnde Umwelt-auflagen und die oftmals nicht durchgeführten Kontrollen sind hierfür ein Grund (vgl. KNOX ET AL. 2001, S. 582 ff.).

Verkehr Die Verkehrsproblematik wird von verschiedenen Akteuren als dringlichstes ökonomi-sches und ökologisches Problem eingeschätzt, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil alle gesellschaftlichen Schichten davon betroffen sind. Ökonomisch problematisch ist an der oft dramatisch überlasteten Verkehrssituation in Megastädten der enorme Zeitver-lust bei Personennahverkehr und die schlechte Koordinierbarkeit von Terminen, welche durch unvorhersehbare Staus und lange Wartezeiten erzeugt werden (vgl. SIEMENS AG 2007, S.27 ff.). Die durch den Verkehr entstehende Luft- und Lärmbelastung schädigt die menschliche Gesundheit in Form von Atemwegserkrankungen und beeinträchtigt die

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TEIL II: SPANNUNGSFELDER ZWISCHEN ÖKOLOGIE UND ÖKONOMIE

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Entwicklung von Kindern. Zudem werden auch Boden und (Trink-) Wasser durch die hohe Luftverschmutzung belastet (vgl. KNOX ET AL. 2001, S. 584). Darüber hinaus ist gera-de der motorisierte Individualverkehr eine gefährliche Form der Fortbewegung; zwi-schen 1984 und 1996 starben allein in Istanbul täglich durchschnittlich 20 Menschen im Verkehr (vgl. KOYDL 1996, S.1). Der stark wachsende Individualverkehr ist eine Folge des starken Bevölkerungswachstums und Antwort auf ein wenig ausgebautes Netz des öf-fentlichen Personennahverkehrs. Zusätzlich erschwerend sind die naturräumlichen Ausgangsbedingungen: Neben dem sehr hügeligen Relief stellen die großen Wasserflächen im Stadtgebiet die Verkehrspla-nung vor große Herausforderungen. Hinzu kommt die in einigen Bereichen noch vor-handene dichte Bebauung im traditionell-osmanischen „Sackgassengrundriss“, welche nicht unbedingt als verkehrsgünstig bezeichnet werden kann. Diese Faktoren verhin-dern ein tragfähiges Verkehrsachsenkonzept. Die Ausbaumöglichkeiten für den motori-sierten Individualverkehr haben ihre Grenzen längst erreicht. Als Lösungsansatz sieht man in Istanbul wie auch anderswo den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Einige vorhandene Tramstrecken sollen verbunden werden, weitere Strecken und eine Erhöhung der Taktzahl sind in Planung. Auch dem Bus- und Sammeltaxiverkehr kommt eine wichtige Aufgabe zur Bewältigung der Verkehrslast zu, da diese Systeme flexibler sind als der Schienenverkehr (vgl. STEWIG 2006, S 611 ff.). Außerdem soll der Bosporus un-tertunnelt werden, um die Brücken zu entlasten, was allerdings durch die tektonischen Bewegungen im Gebiet und zahlreiche Funde aus Byzanz und Konstantinopel erschwert wird (vgl. BAYKAL 2007, S.1). Einige Erfolge konnten bereits erzielt werden, indem der „ü-berstädtische“ vom „innerstädtische“ Verkehr teilweise getrennt wurde (vgl. STEWIG 2006, S 611 ff.).

Siedlungsflächen – Marginalsiedlungen Die lokale Version der Marginalsiedlungen wird als „Gecekondular“ bezeichnet. Das Wort bedeutet „Über Nacht entstanden“ und beruht darauf, dass nach traditionellem Recht ein Haus nicht mehr abgerissen werden darf, sobald es ein festes Dach besitzt. Folglich werden Gebäude der Gecekondular in der Regel in sprichwörtlichen „Nacht und Nebel“-Aktionen auf öffentlichem Grund immerhin soweit errichtet, bis das Dach eben erkennbar vorhanden ist. Das Recht ein Gecekondu zu errichten ist gesetzlich verankert und stößt auch in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz, nicht zuletzt weil große Teile der Stadt auf diese Weise entstanden sind. Abrissversuche durch die Stadt-verwaltung stießen in Presse und Bevölkerung mehrfach auf großen Widerstand. Die Bausubstanz der Gecekondular entspricht zwar kaum baulichen Vorschriften oder Auf-lagen, ist jedoch aufgrund der klimatischen und finanziellen Verhältnisse sowie der Aus-sicht auf eine nachträgliche Legalisierung des Gebäudes nicht mit den Marginal- oder Slumsiedlungen afrikanischer Megacities zu vergleichen. Der Anschluss der Gecekondu-Viertel an jegliche Infrastruktur erfolgte im Nachhinein in allen Siedlungen. In einigen hat sich die bauliche Situation auch durch Eigeninitiative der Bewohner teils soweit verbes-sert, dass die Gebiete kaum noch als ehemalige Gecekondular erkennbar sind. Dies gilt jedoch längst nicht für alle Siedlungsbereiche. Für die Struktur der Gesamtstadt stellt diese Vorgehensweise ein großes Problem dar, weil einerseits vorausschauende und effiziente Planung kaum möglich ist und andererseits sich einige Gecekondular inzwi-schen auf Trinkwassergewinnungsgebieten ausbreiten (vgl. HÜFFEROTH ET AL. 2004, S. 327).

Abschlussbemerkung

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Was abschließend bei der Beschäftigung mit diesem Thema auffällt, ist, dass es sich meist um technische Probleme handelt, sofern man die Bereiche einzeln betrachtet. So ist zum Beispiel der Zusammenhang zwischen der Ausbreitung von Krankheiten und ver-schmutztem Wasser sattsam bekannt. Warum erscheint es trotzdem so schwer, diese Probleme zu lösen? Hier lassen sich mehrere Ursachengruppen erkennen: Zuerst ist zu berücksichtigen, dass sich die Problemfelder wechselseitig beeinflussen und in komple-xer Weise zusammenhängen. Zudem bestehen zwischen mehreren Problemfeldern Ziel-konflikte, die bei zusätzlicher Berücksichtigung sozialer und wirtschaftlicher Interessen drastisch verstärkt werden. Bei einigen der Probleme scheint der Erklärungsansatz zu greifen, der im Allgemeinen als oder „Tragik der Allmende“ bezeichnet wird: die Konkur-renz um ein Gut ist hoch, aber niemand kann von der Nutzung ausgeschlossen werden. In Bezug auf das Gut „Ruhe, Sicherheit und saubere Luft“ könnte dies bedeuten: Für den einzelnen ist es von Vorteil, wenn alle anderen auf das Auto verzichten- nur er nicht. Umgekehrt hat er keinen Vorteil davon, nicht Auto zu fahren, wenn es alle ande-ren tun: er leidet weiterhin unter Lärm und Luftverschmutzung. Wenn ein einzelner ver-sucht, das kollektive Ziel durchzusetzten, handelt er sich selbst einen Nachteil ein ohne dem Ziel dadurch wesentlich näher zu kommen (vgl. LORZ ET AL. 2007, S.391). Ein weiterer Faktor scheint die Pfadabhängigkeit zu sein. So gilt sowohl für bauliche Anlagen als auch für Verwaltungsstrukturen und Technologien, dass scheinbar ein einmal einge-schlagener Weg nicht abrupt unterbrochen wird, auch wenn ab einer bestimmten Ein-wohnerzahl die hergebrachten Methoden nicht mehr effizient sind. Zudem sind stadt-ökologische Probleme oft ressortübergreifende Probleme, die in Planung und Forschung oft zahlreiche Ressorts betreffen, was zu inhaltlichen und fachpolitischen Differenzen führen kann (vgl. GROHÉ ET AL. 1985, S. 237). Zuletzt soll erwähnt werden, dass, so schwie-rig die Arbeit an diesen Problemen auch zu sein scheint, vor Allem der politische Wille dazu vorhanden sein muss. Denn wenn scheinbar in einigen Vierteln eine sehr viel bes-sere Versorgung möglich ist als in anderen (und nicht selten auf Kosten dieser), stellt sich doch die Frage, ob eine zuverlässige Versorgung und erträgliche Lebensbedingungen für alle Stadtbewohner überhaupt das angestrebte Ziel einer solchen Politik sind. Literatur

ADAM, K. (1988): Stadtökologie in Stichworten. Unterägeri (= Hirt´s Stichwortbücher)

BAYKAL, H.(2007): Nächster Halt Byzanz. In: Die Zeit, Nr.27 vom 14.6.2007

DÖRNER, D. (1996): Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situati-onen. Reinbek bei Hamburg. (= rororo science)

GROHÉ, T. U. R. TIGGEMANN (1985): Stadtökologische Planung und Stadterneuerung. Dar-gestellt am Beispiel von Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung in Bochum. In: GR. Bd. 37. H.5. S. 234-239

HARD, G. (1997): Was ist Stadtökologie? Argumente für eine Erweiterung des Aufmerk-samkeitshorizonts ökologischer Forschung. In: Erdkunde. Bd. 51, S.100-113

HÜFFEROTH, W.-D. U. V. HOHEFELD (2002): Türkei. (= Wissenschaftliche Länderkunden)

KNOX, P.U. S. MARSTON (2001): Humangeographie. Heidelberg, Berlin

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KOYDL, W. (1996): Blicke nie zurück! Was ein Autofahrer in Istanbul wissen muss. In: Süd-deutsche Zeitung vom 21./22. 12. 1996. Online unter: http://www.htlsteyr.ac.at/~holz/istanbul/texte/ 01koydl.html (abgerufen am 17.8.2007)

LESER, H. (Hg.) (1997): Diercke Wörterbuch Allgemeine Geographie. Vollkommen über-arbeitete Neuausgabe. München: dtv

LORZ, O. U. H. SIEBERT (2007): Einführung in die Volkswirtschaftslehre. 15., vollständlich über-arbeitete Auflage. Stuttgart

MEURER, M. (1997): Stadtökologie. Eine historische, aktuelle und zukünftige Perspektive. In: Geographische Rundschau. Bd. 49. H. 10. S. 548- 552

SIEMENS AG (HRSG.) (2007): Megacities und ihre Herausforderungen. Die Perspektive der Städte. Online unter: http://www.siemens.com/Daten/siecom/HQ/CC/Internet/About_Us/WORKAREA/about_ed/templatedata/Deutsch/file/binary/MegaCity-Report_1430995.pdf (ab-gerufen am 17.8.2007)

STANDL, H. (2003): Trinkwasser für die Megacity Istanbul. Probleme und Lösungsstrategien. In: Geographische Rundschau, Bd. 55, H.4, S.10-16

Stewig, R. (2006): Entwicklung der innerstädtischen Verkehrserschließung Istanbuls im Spiegel gesellschaftlicher Transformation in der Türkei. In: Kieler geographische Schriften Band 111, S. 605-633

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Ländliche Entwicklungen zwischen Subsistenzwirtschaft und internationaler Ökonomie

Rosia Montana im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Ökologie und kultu-reller Identität

Von: Jonas Linke Im Januar 2007 forcierte die Europäische Union mit dem Beitritt Rumäniens und Bulga-riens den vorerst letzten Schritt der Osterweiterung. Damit wurde der in den Kopenha-gener Kriterien formulierte und auf dem Gipfel 2002 am selbigen Ort beschlossene Pro-zess vollendet. Gleichzeitig erreichte die EU damit neben rund 28 Mio. neuen Mitbür-gern auch eine Reihe neuer regionaler Konfliktherde und Problemfelder. Neben Zent-rum-Peripherie-Konflikten oder rein wirtschaftlichen Problemen, werden diese häufig durch das Aufeinandertreffen divergierender ökonomischer und ökologischer Interes-sen ausgelöst. Im Falle Rumäniens trifft dies in besonderem Maße auf die Bergbauregio-nen zu, die aufgrund ihrer Strukturschwäche vor spezifischen Herausforderungen stehen. Als Gebiete von besonderer Brisanz soll ihr vielfältiges Spannungsfeld zwischen ökonomi-schen und ökologischen Interessen hier dargestellt und diskutiert werden. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Rosia Montana, einem Dorf in den rumänischen Westkarpaten, in dem das derzeit größte Goldabbauprojekt Europas geplant ist. Die Region um Rosia Montana (rumän.: roter Berg) liegt im Apuseni-Gebirge (Westge-birge) der Karpaten im transsilvanischen Bezirk Alba rund 130 km südwestlich der Stadt Cluj-Napoca. Die Landschaft ist in diesem Teil des Gebirges durch eine hohe Biodiversi-tät (Artenvielfalt) charakterisiert. Mit der Ausweisung des Nationalparks ‚Apuseni Moun-tains’ wurde der ökologischen Bedeutung des Gebiets Rechnung getragen. Darüber hinaus finden sich in dem Gebiet bezeichnende geologische (z. B. Karst) und paläo-geologische Formationen – letztere enthalten zudem Seltenheiten wie fossiles Wasser (BUZA ET AL. 2001). Darüber hinaus handelt es sich bei der Region um ein traditionelles Bergbaugebiet, das reich ist an metallhaltigen Erzen, wie Gold, Silber, Aluminium, Blei und Kupfer (FORRAY 2002). Zeugnisse des Erzabbaus reichen bis in die Zeit Dakiens (50 v. Chr.) und der dakischen Provinz des römischen Reichs (107 – 276 n. Chr.) zurück. Aus dieser Zeit stammen auch die berühmten römischen Galerien mit ihren akkuraten Entlüf-tungs- und Bewässerungssystemen. Diese gehören zusammen mit den Wachstafeln zu den umfangreichen Kulturschätzen der Region (SURD, TURNOCK 2000). Darüber hinaus vermuten viele Experten noch zahlreiche nicht offen gelegte archäologische Preziosen in dem Gebiet (SURD, TURNOCK 2000). Den Höhepunkt der Erzförderung erreichte die Re-gion zu Zeiten des Österreich-Ungarischen Kaiserreichs (1867 – 1918) (Florea et al. 2005). Nach dem Zweiten Weltkrieg unterlag der Bergbau der staatlichen Planwirtschaft und damit dem Kompetenzbereich der staatlichen Bergbaugesellschaft (heute Minvest S.A. Deva). Aus beiden Epochen liegen bis heute keine genaueren Angaben zu Fördertä-tigkeiten und -mengen vor. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es trotz der erheblichen Eingriffe zu keiner nachhaltigen Schädigung des Ökosystems um Rosia Montana gekommen ist.

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Neben dem Bergbau war die Region immer sehr stark durch landwirtschaftliche Nut-zung geprägt: Haupteinkommensquellen der Menschen sind traditionelle Wirtschafts-formen der Land- und Forstwirtschaft (WAACK 2004). Welche Bedeutung die Landwirt-schaft und vorwiegend die Subsistenzwirtschaft hat, wird durch die Zahl der Bauernhöfe deutlich: in 1.200 m Höhe finden sich mehr als 2.200 Bauernhöfe (WAACK 2004). Aus dem Rückgang des produzierenden Gewerbes und den damit verbundenen Einkommens-einbußen resultiert vielfach ein verstärkter Bewirtschaftungsdruck auf Waldgebiete und Weideflächen (BUZA ET AL. 2001). Auch an Grenzertragsstandorten, wie podsolierten Bö-den und Hanggebieten, wird mit Hilfe vermehrten Düngemitteleinsatzes versucht diese in fruchtbare Agrarflächen umzuwandeln (BUZA ET AL. 2001). Die Ackerflächen werden dabei überwiegend mit traditionellen Arbeitstechniken bearbeitet (BUZA ET AL. 2001). Neben dem Mangel an Arbeitsplätzen außerhalb von Land- und Forstwirtschaft leidet die Region zusätzlich an umfangreichen Finanz- und Organisationsproblemen (WAACK 2004). Letzteres wird besonders ersichtlich durch die mangelhaft ausgebaute Infrastruk-tur (Verkehr, Wasserversorgung, Elektrizität, medizinische Versorgung etc.). Nach Anga-ben von Dorfbewohnern hat der letzte Arzt den Ort 2007 verlassen. Hinzu kommt, dass die überalterte und oftmals gering gebildete Bevölkerung nur über ein geringes Pro-Kopf-Einkommen und nicht über die Möglichkeiten einer externen Beschäftigung ver-fügt (WAACK 2004). All diese Charakteristika akzentuieren somit erneut das Hauptprob-lem der wirtschaftlichen Strukturschwäche. Auch aus Gründen dieses Zentrums-Peripherie-Konflikts (Waack 2004) schätzen Wirtschaftsexperten der EU eine marktwirt-schaftliche Integration der Bergbauregionen in den europäischen Binnenmarkt als Vor-haben ein, dass ungeachtet der EU- Förderprogramme PHARE und SAPARD und weite-ren umfangreichen Finanzhilfen schwierig umzusetzen sein wird. Aufgrund der Strukturschwäche wird der Bergbau daher in den letzten Jahren wieder zunehmend als alternative Erwerbsquelle thematisiert. Nicht zuletzt durch steigende Mineralienpreise auf dem Weltmarkt und die wachsenden wirtschaftlichen Disparitäten in den Bergbauregionen Rumäniens. Dennoch bringt der Gewinn von Gold auch Ge-fahren und Belastungen für die Umwelt und damit der Lebensgrundlage vieler Men-schen mit sich. Neben Belastungen aus Abraumrückständen gefährden vor allem saure Grubenwässer die Fließgewässer, Böden und Vegetation der Region (FORRAY 2002; FLO-

REA ET AL. 2005). Heute lassen sich die Folgen der jahrelangen Abbautätigkeiten in der Region um Rosia Montana nicht nur am stark veränderten Landschaftsbild erkennen. Erste Untersuchun-gen haben ergeben, dass die zulässigen Grenzwerte für Schwermetalle wie z. B. Cad-mium und Blei in den Bächen und Flüssen der Region häufig um ein Vielfaches über-schritten wurden (FLOREA ET AL. 2005). Quellen der Schwermetalle sind vor allem die Auf-bereitungsrückstände aus dem Bergbau (FORRAY 2002, FLOREA ET AL. 2005). Neben dem Verfahren der Flotation entstehen vor allem bei der Methode der Cyanidlaugung stark toxische Umweltgifte. Diese werden oftmals in Stauseen gelagert. Die regionalen Fließ-gewässer entwässern über die Bäche Abrud, Aries und Mures schließlich in die Donau (FORRAY 2002, FLOREA ET AL. 2005). Erhöhte Konzentrationen von Schadstoffen werden über weitere Strecken verlagert und bedrohen somit Trinkwasser und Umwelt über die regionalen Grenzen hinaus. Die Ausmaße einer potentiellen Katastrophe wurden im Jahre 2000 deutlich, als in Baia Mare, einem Ort nördlich von Rosia Montana, der Stau-damm eines australischen Unternehmens mit giftigen Cyanidabfällen brach und die Flüsse der Region mit Schwermetallen überflutete. Diese gelangten über den fischrei-

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chen Fluss Theiß in die Donau - ein massives Artensterben war die Folge. Bis heute hat sich das Ökosystem der Theiß nicht vollständig von diesem ökologischen Desaster er-holt. Dass diese Thematik von dauerhafter Aktualität ist, zeigt die Diskussion um das geplante Großprojekt zum Goldabbau durch die Rosia Montana Gold Corporation (RMGC). Bei dem Unternehmen handelt es sich um ein Joint Venture zwischen der staatlichen Berg-baugesellschaft Minvest S.A. Deva und dem kanadischen Unternehmen Gabriel Re-sources, das heißt zwischen einer staatlichen Institution und einem global agierendem Wirtschaftsunternehmen. Der rumänische Staat ist mit 20% an dem Joint Venture betei-ligt und hat vertraglich eine Dividende von 2% zugesichert bekommen. Das Projekt ist für einen Zeitraum von 17-20 Jahren angesetzt, in dem nach eigenen Angaben 300 Tonen Gold und 1.700 Tonnen Silber durch Tagebau gefördert werden sollen (GABRIEL

RESOURCES LTD. 2001). Die gewaltigen Dimensionen des Projekts werden darüber hinaus deutlich, wenn die in Zukunft vom Abbau betroffene Fläche betrachtet wird: Diese würde sich bei der Realisierung des Projekts im Vergleich zu heute um das 50-fache erweitern (Waack 2004). Der Goldgehalt in dem Gestein ist heute allerdings nur noch relativ gering, weshalb als einzig effektive und kostengünstige Abbaumethode das hochgiftige Verfahren der Cyanidlaugung eingesetzt werden soll (FORRAY 2002A, WAACK

2004, DAMIGOS, KALIAMPAKOS 2006). Dieses ist zwar das international gängige Standard-verfahren, birgt jedoch auch unkalkulierbare Risiken in puncto Entsorgungs- und Lage-rungssicherheit der Rückstände. Das mit Cyanid verseuchte Restgestein soll dabei in einem Stausee im benachbarten Corna-Tal gelagert werden - Rosia Montana und die Siedlungen im Tal, schätzungsweise 2000 Menschen aus rund 900 Haushalten - müssten dafür umgesiedelt werden. Zusätzlich ergaben Schätzungen von Wissenschaftlern, dass der Staudamm rund 50-mal größer sein müsste als in Baia Mare, um das Restgestein von der Umwelt abzuschirmen. Neben der ökologischen Dimension des geplanten Goldabbaus birgt dieses Großpro-jekt zahlreiche zivilgesellschaftliche Konflikte in sich. So haben beispielsweise lukrative Angebote der RMGC bereits dazu geführt, dass viele Menschen ihre Häuser in Rosia Montana verkauft haben. Sämtliche Häuser, die sich in Besitz des Unternehmens befin-den, werden dabei öffentlichkeitswirksam durch eine goldene Plakette gekennzeich-net. Durch diese Maßnahme, wie auch durch Transparente von Befürwortern und Geg-nern des Projekts entsteht im Ort eine spannungsgeladene Atmosphäre, die jedem Be-sucher bereits nach kurzer Zeit auffällt. Hierdurch wird auch deutlich, dass die Konfliktli-nien mitten durch die Bevölkerung, teilweise sogar durch einzelne Familien führen. Gleichzeitig steht diese Stimmung stellvertretend für die öffentliche Diskussion in Rumä-nien, in der das Projekt sehr kontrovers diskutiert wird. Während die RMGC und viele Vertreter aus Wirtschaft und Politik ausschließlich positive Effekte anführen, betont ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis um die lokale NGO Alburnus Maior (lat.: Rosia Mon-tana) die Gefahren möglicher Umweltschäden. Nach eigenen Angaben will die RMGC rund 1.800 neue Arbeitsplätze schaffen, einen umfassenden Technologie- und Know-how-Transfer gewährleisten, sowie Programme zur Sicherung von Kulturschätzen und Renaturierungen finanzieren (GABRIEL RESOURCES LTD. 2001). Vertreter der Umweltverbände und der Akademie der Wissenschaften stehen den Aus-sagen der RMGC skeptisch gegenüber und verweisen neben den möglichen schwer-wiegenden Folgen für die Umwelt, die keiner Katastrophe wie in Baia Mare bedürfen,

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im schlimmsten Fall aber in einer solchen gipfeln können (ALBURNUS MAIOR 2007), auf die Zerstörung von menschlichen Existenzen durch Umsiedelung und Flächennahme sowie den Wert ungeborgener Kulturschätze. Auch unkalkulierbare Einflüsse, wie die des Kli-mawandels (z. B. Entwicklung von Starkregenereignissen) auf die Lagerung der Abfälle in Staudämmen werden von Experten angemahnt. Die rumänische Akademie der Wis-senschaften kritisiert zudem die Unklarheit bezüglich einer Gewährleistung von Langfris-tigkeit – sowohl für die Arbeitsplätze, als auch für die Verantwortlichkeit gegenüber öko-logischen Folgeschäden des Tagebaus. Als alternative Entwicklungsstrategie wird vielfach das Tourismuspotential der Region herausgestellt, das sich aus landschaftlichen und kulturellen Sehenswürdigkeiten ergibt. Mögliche Konzepte könnten dabei die Schaffung von Hotels, Herbergen und einem Freilandmuseum zum Thema Goldgewinnung in der regionalen Historie sein (ALBURNUS

MAIOR 2007). Vergleiche mit anderen europäischen Ländern wie Finnland (z. B. Urho Kekkonen Nationalpark) zeigen, dass ein derartiges Erlebnismuseum zumindest in der Sommersaison sehr gut angenommen werden kann. Dennoch scheint das Potential von Tourismus vor allem saisonal beschränkt zu sein - eine Erschließung wird zusätzlich durch bereits genannte Probleme im Bereich der Infrastruktur erschwert. Unterstützt werden die Proteste nicht nur von anderen NGOs wie Greenpeace Öster-reich, sondern auch von der ungarischen Regierung, die schwerwiegende Versäumnis-se bei der vorgeschalteten Umweltverträglichkeitsprüfung (EIA – Environmental Impact Assessment) anmahnt. Das ungarische Umweltministerium wirft den zuständigen rumäni-schen Behörden schlampige Arbeit in Form von fehlerhaften Berechnungen und unzu-reichende Datenerhebung vor. Dieser Kritik haben sich darüber hinaus zahlreiche inter-national anerkannte Wissenschaftler angeschlossen, die der Ansicht sind, dass die EIA in der vorliegenden Form defizitär ist und daher wiederholt werden müsse. Ungeachtet der Vielzahl der Einwände wurde das Projekt der RMGC noch vor dem rumänischen EU-Beitritt von den Behörden genehmigt, nachdem die nach der Espoo-Konvention vorge-schriebene EIA durchgeführt worden war. Im April 2006 besuchte der EU-Umweltkommissar Stavros Dimas die Region – die rumänische Umweltministerin Sulfina Barbu kündigte daraufhin an, den Genehmigungsvorgang für das Projekt abzubrechen. Im Juli 2007 gab das Verwaltungsgericht dem Einspruch des „Independent Centre for Development of Environmental Resources“ (ICDER) und Alburnus Maior statt und entzog der RMGC die zuvor erteilte Baugenehmigung. Bereits im August 2007 versuchte die RMGC mit identischen Projektanträgen eine neue Genehmigung) zu beantragen, wel-ches aber am rumänischen Gesetz scheiterte. Eine endgültige Entscheidung scheint damit von dem geplanten Zeitpunkt Ende 2006/Anfang 2007 bis auf unbestimmte Zeit vertagt. Unabhängig von dieser Entscheidung stellt das Projekt bereits heute in vielerlei Hinsicht ein Exempel dar: Es zeigt deutlich die Konfliktlinien zwischen wirtschaftlichen und sozio-ökologischen Interessen und stellt Rumänien und die EU vor die wichtige Frage einer adäquaten Entwicklungsstrategie für strukturschwache Regionen, die den Grundsätzen gleichwertiger Lebensbedingungen und einer ausgewogenen räumlichen Entwicklung Rechnung trägt. Ausländische Direktinvestitionen stehen dabei oftmals nationalen und internationalen Förderinstrumenten sowie endogenen Entwicklungspotentialen wie dem Tourismus gegenüber. Im vorgestellten Fall wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach der Entscheidungsprozess durch die Rechtstreitigkeiten hinziehen und in letzter Instanz gerichtlich entschieden werden. Damit könnte das Projekt zum Präzedenzfall hinsicht-

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lich der Umweltgesetzgebung in den neuen EU-Mitgliedsstaaten werden. Darüber hin-aus kann dem „Fall Rosia Montana“ aufgrund der Vielzahl der regionalen Proteste und der großen medialen Anteilnahme in Rumänien eine Symbolwirkung zugeschrieben werden, die zur Positionierung und auch zur Stärkung von Zivilgesellschaft in Rumänien geführt hat. Abschließend lässt sich festhalten, dass auch wenn das Land kaum vor der Wahl zwi-schen einem neuen El Dorado und einer Umweltkatastrophe wie Tschernobyl steht, so muss die Entscheidung dennoch an eine realistische Einschätzung der einzelnen Strate-giepotentiale gekoppelt sein. Umweltauswirkungen des Goldabbaus dürfen nicht län-ger auf die leichte Schulter genommen werden, sondern müssen dezidiert in die Ent-scheidungsprozesse einfließen. Höchst fragwürdig bleibt dabei, inwieweit massive Um-weltprobleme für eine relativ kurzfristige und kaum nachhaltige wirtschaftliche Entwick-lung in Kauf genommen werden dürfen. Literatur APOSTOL, I. (2003): The Rosia Montana Mining Project. Bukarest.

BUZA, M.; L. DIMEN; G. POP; D. TURNOCK (2001): Environmental protection in the Apuseni Mountains: The role of Environmental Non-Governmental Organisations (ENGOs). In: GeoJournal 54 (2001), 631-653.

DAMIGOS, D.; D. KALIAMPAKOS (2006): The “battle of gold” under the light of green eco-nomics: a case study from greece. In: Environmental Geology (2006) 50, 202 – 218.

FLOREA, R. M. ET AL. (2005): Water pollution in gold mining industry: a case study in Rosia Montana district, Romania. In: Environmental Geology (2005)48, 1132-1136.

FORRAY, F. (2002a): Environmental pollution in the Aries river catchment basin. Case study: Rosia Montana mining exploration. In: Studia Universitatis Babes-Bolyai, Ge-ologia, Special Issue 1 (2002), 189-198.

FORRAY, F. (2000b): Geochemistry of the environment in the areas of mining works from Aries Valley (Apuseni Mountains). Abridged version of PhD-thesis. Cluj.

GABRIEL RESOURCES LTD. (2001): Rosia Montana – a definitive feasibility study. Toronto.

PALMUJOKI, E. (2006): Public-private governance patterns and environmental sustainabil-ity. In: Environment, Development and Sustainability 8 (2006), 1-17.

SIMON, T. (2001): Möglichkeiten der nachhaltigen Entwicklung in einer traditionellen Re-gion Europas: Apuseni-Gebirge, Rumänien. Fallstudie der Universität Freiburg. Bu-karest.

SURD, V.; D. TURNOCK (2000): Romania’s Apuseni Mountains: Safeguarding a cultural heri-tage. In: GeoJournal 50 (2000), 285-304.

WAACK, C. (2004): Ländliche Peripherien im Kontext der EU-Erweiterung – Welche Zukunft haben die rumänischen Bergbauregionen? In: Europa Regional 12 (2004)2, 92 – 99.

Internet:

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TEIL II: SPANNUNGSFELDER ZWISCHEN ÖKOLOGIE UND ÖKONOMIE

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ALBURNUS MAIOR: www.rosiamontana.org und www.rosiamontana.ro (abgerufen am 30.11.2007)

GABRIEL RESOURCES: www.gabrielresources.com (abgerufen am 30.11.2007

RMGC: www.rmgc.ro und www.truestory.ro (abgerufen am 30.11.2007)

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TEIL III: EU INTEGRATION UND REGIONALISMEN

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TEIL III: EU INTEGRATION UND REGIONALISMEN

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Teil III EU Integration und Regionalismen

Verwaltungsgebiet statt Identitätsraum - Rumäniens Regi-onen als „Nebenprodukt“ des EU-Beitritts

Von: Carl-Philipp Schuck

Mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur Europäischen Union zu Beginn des Jahres 2007 hat die Erweiterung des Unionsgebietes ein vorläufiges Ende gefunden; die Vertie-fung gemeinschaftlicher Aufgaben und Ziele steht nun wieder im Vordergrund. Die The-se, dass beide Aspekte, Erweiterung und Integration, eng miteinander verknüpft sind, soll exemplarisch am Beispiel Rumäniens und den mit dem Unionsbeitritt verbundenen Reformen auf der Ebene der Regionen behandelt werden. Diese als Regionalisierung zu bezeichnende Anpassung Rumäniens an die Bedingungen der Europäischen Union ist, wie noch zu zeigen sein wird, kein bloßes Einzeichnen neuer Flächenfarben auf der poli-tischen Landkarte, sondern zeigt als Teil der politischen Systemgestaltung erhebliche Implikationen auf die Machtverteilung.

Region und Regionalisierung Unter Regionen können allgemein Raumeinheiten verstanden werden, in denen be-stimmte Merkmale oder Funktionsbeziehungen tatsächlich oder in der Wahrnehmung dominant sind und einen Teilraum homogen gestalten und ihn gegenüber anderen abgrenzen.2 Neben der empirischen Beschreibbarkeit von homogenen Merkmalen spielt die gesellschaftliche Wahrnehmung und vor allem Akzeptanz eine Rolle. Regiona-lisierung bezeichnet den Prozess zur Herstellung einer räumlichen Ordnung. Er umfasst die Suche und Auswahl von Kriterien, nach denen ein Raum als einheitlich definiert und somit als Region ausgewiesen wird. Normative Erwägungen spielen eine entscheidende Rolle und bestimmen die Auswahl der sachlichen Kriterien. Regionalisierung ist zwar sachbezogen, aber stets interessengesteuert. Obwohl der Politikwissenschaft ein einheit-licher Regionsbegriff fehlt, steht der Begriff der Regionalisierung im Kontext einer anzu-strebenden Dezentralisierung politischer Macht. „Ziel und Begründung einer nachhalti-gen Regionalisierung ist immer Akzeptanz seitens der regionalen Zivilgesellschaft. Akzep-tanz ermöglicht es, dass die Region zum Ort der Interessensaggregierung, der politi-schen und gesellschaftlichen Kommunikation, des wirtschaftlichen Austauschs und zur neuen Arena politischen Entscheidens wird.“3

2 E. Brunotte et al. (Hrsg.): Lexikon der Geographie, Bd. 3, Heidelberg 2002, S. 126. 3 J. Dieringer / R. Sturm: Gesellschaftliche Regionalisierung? Zur Nachhaltigkeit EU-induszierter Dezentra-lisierungsprozesse in Mittel- und Osteuropa, In: Jahrbuch des Föderalismus 2005, Baden-Baden 2005, S. 51.

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TEIL III: EU INTEGRATION UND REGIONALISMEN

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Die Region in der Europäischen Union

Es gibt keine einheitliche Regionsdefinition auf europäischer Ebene. Vielmehr greift die EU auf die Staats- und Verwaltungsgliederung ihrer Mitgliedsstaaten zurück, die den nationalen Erfahrungen und Erfordernissen entsprechend sehr landesspezifisch ausfällt. Um dennoch eine Vergleichbarkeit der Regionen Europas zu gewährleisten, wurden diese einer Einteilung in die „Systematik der Gebietseinheiten für die Statistik“ (NUTS) unterworfen.4 Zwar verfügt die EU über keine eigene Administration auf regionaler Ebe-ne, sondern steht vielmehr im Austausch mit den jeweiligen regionalen Gebietskörper-schaften. Die politischen Beziehungen zwischen den EU-Institutionen und den Regionen können dennoch als eng angesehen werden, da letztere vielfach Vertretungen und Verbindungsbüros am Sitz der EU-Institutionen unterhalten.5 Politisch ergibt sich daraus die Entwicklung hin zu einem Vier-Ebenen-System aus Union, Nationalstaat, Region und Kommune, wobei die zweite Ebene Kompetenzen nach oben wie unten abzugeben hat.6 Die EU-Osterweiterung in 2004 und 2007 hat schließlich allen Beitrittsländern die Vorbereitung und Umsetzung einer Regionalisierung abverlangt, d.h. dort geschah die Einrichtung und Ausgestaltung der regionalen Ebene auf besonderes Drängen der Uni-on.7 Aus Sicht der EU sprechen vor allem zwei Motive für die Regionalisierung in den Mitgliedsstaaten: Erstens nutzt sie dezentrale Einheiten als „Adressaten“ ihrer Regional-politik. Zweitens stellen dezentrale Einheiten einen wichtigen Baustein für die demokrati-sche Entwicklung dar.8

Regionalisierung als Teil des Beitrittsprozesses Im Zuge der Beitrittsverhandlungen hat die EU-Kommission die Ziele der Integration durch Konditionen gegenüber den neuen Mitgliedsstaaten zu erreichen versucht. Diese betraf insbesondere auch die Regionalisierung mit den daran geknüpften Strukturfonds und Vorbeitrittsprogrammen, welches jedoch zu unterschiedlichen Lösungen in den einzelnen Staaten geführt hat. Hughes fragt daher, inwieweit die Kommission eine fest-gesetzte Linie in Bezug auf Regionalisierung verfolgt hat und kommt zu dem Ergebnis, dass die jeweilige Position der nationalen Verhandlungspartner erhebliches Gewicht auf den Ausgang der Regionalisierung gehabt hat. Hauptanliegen der EU war dem-nach lediglich die Einhaltung der NUTS-Größenkriterien und ausreichende administrative Kapazitäten der subnationalen Ebene wegen ihrer Bedeutung für die Adressierung der Strukturfonds.9 Eine Einbeziehung regionaler Vertreter war kein Bestandteil der Konditio-

4 B. Immig: Die europäische Regionalpolitik - Bestandsaufnahme und Ausblick auf die Förderperiode 2007-2013, Saarbrücken 2007, S. 5. 5 I. Tömmel: Das politische System der EU, 2. Aufl., München 2006, S. 162. 6 U. Ruge: Die Erfindung des „Europa der Regionen“ - Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, Frankfurt/Main 2003, S. 293. 7 J. Bachtler et al. (Hg.): Transition, Cohesion and Regional Policy in Central and Eastern Europe, Alder-shot 2000, S. 345. 8 E. Trützschler von Falkenstein: Mittelosteuropa - Nationen, Staaten, Regionen, Frankfurt/Main 2005, S. 433. 9 J. Hughes et al.: EU Enlargement, Europeanisation and the Dynamics of Regionalisation in the CEECs, In: M. Keating / J. Hughes (Hg.): The Regional Challenge in Central and Eastern Europe - Territorial Re-structuring and European Integration, Brüssel 2003, S. 72.

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nalität; die EU führte allein bilaterale Verhandlungen mit den nationalen Regierungen.10 Obwohl die Konditionalität der Regionalisierung an sich bereits eine Herausforderung für die Beitrittsstaaten bedeutete, fanden Prinzipien der Subsidiarität und regionalen Selbst-verwaltung kaum Berücksichtigung bei der Umsetzung.11 Vielmehr machte das Effizienz-kriterium eine Zusammenarbeit zwischen EU-Administration und Organen der nationalen Ebene relevant. Hierzu Hughes: „On the one hand, there is the Commissions’s institu-tional preference for decentralisation and partnership with the regions, and on the other hand, there is the realisation that ‘value for money’ concerns impel the Commis-sion to rely on the most reliable, efficient and most easily monitored mechanism for dis-persion of funds, namely central ministries. Thus, the Commission’s mantra of regional administrative capacity becomes inverted to mean stronger central government con-trol of structural funds.”12

Staatsaufbau und Staatsverständnis Rumäniens Bei der Beurteilung des rumänischen „Regionalisierungsweges“ ist neben historischer, administrativer und ökonomischer Regionsbildung das Regionalbewusstsein von zentra-ler Bedeutung. Im staatlichen Selbstverständnis ist Rumänien ein unitarischer National-staat. Auch die jüngere Geschichte hat kaum Grundlagen für regionales Bewusstsein geschaffen: in der Zeit sowjetischer Suprematie bedeutete sozialistische Planwirtschaft eine durchweg zentralistische Machtausübung; die Wendezeit wiederum kommt einer nachholenden Nationalisierung und Zentralisierung gleich.13 Tatsächlich aber verfügt das Land über historische Regionen mit zum Teil sehr wechselvoller Geschichte. So bil-dete Siebenbürgen bis 1918 den östlichen Landesteil der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie und pflegt noch heute eine enge kulturelle Bindung an Ungarn. Glei-ches gilt für das Banat im Südwesten und die Bukowina im Norden. Die Dobrudscha wiederum teilt sich auf in einen rumänischen Teil im Norden und bulgarischen Küsten-streifen im Süden. Auch andere Grenzgebiete sind in ihren historischen Entwicklungen von Bukarest kaum stärker geprägt als von den umliegenden Staaten. Doch diese histo-risch gewachsenen regionalen Identitäten finden praktisch keinen Niederschlag in der Außendarstellung des Landes. Eine mögliche Selbstverwaltung teilautonomer Regionen wird von Bukarest bislang als Schritt zur Aufspaltung der staatlichen Einheit interpretiert.14 So kann von einer Art strukturellem Unverständnis gegenüber Dezentralisierung und Re-gionalisierung gesprochen werden. Beides wird als ein neuartiger Prozess angesehen, deren Triebkraft nicht der Wille zur Distribution politischer Macht ist, sondern der mit dem EU-Beitritt verknüpfte wirtschaftliche Integrationsprozess.15 Die Umsetzung dieser extern angeregten Regionalisierung wird im Folgenden vertieft.

10 ebd., S. 74. 11 ebd., S. 76. 12 ebd., S. 77. 13 ebd., S. 74. 14 J. Batt: ‘Fuzzy Statehood’ versus Hard Borders - The Impact of EU Enlargement on Romania and Yugo-slavia, In: M. Keating / J. Hughes (Hg.): The Regional Challenge in Central and Eastern Europe - Territo-rial Restructuring and European Integration, Brüssel 2003, S. 170. 15 Hughes: “EU Enlargement”, S. 78.

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Rumäniens Regionalisierung „für Europa“ Im Februar 2000 begannen die Verhandlungen um den Beitritt Rumäniens zur Europäi-schen Union. Obwohl das Land in zahllosen Bereichen bezüglich europäischer Stan-dards und Mindestanforderungen erheblichen Nachholbedarf zeigte und die Beitritts-gespräche zum Teil als entsprechend schwierig eingestuft wurden, konnte Rumänien der Union zum 1. Januar 2007 beitreten.16 Um den Förderkriterien gerecht zu werden, war eine NUTS-gerechte Regionalisierung des Landes unabdingbar. Seit 1968 ist Rumä-nien in Kreise („judets“) mit vornehmlich exekutiver Funktion eingeteilt. Derzeit gibt es 40 solcher Kreise sowie 2 weitere für die Region und die Kommune der Hauptstadt Bukarest (vgl. Abb.). Ihnen steht ein Präfekt der Zentralregierung vor; daneben existieren gewähl-te Kreisräte mit jeweils einem Kreispräsident. Die „judets“ entsprechen nach EU-Schema den kleineren NUTS-III-Gebieten und kamen daher nicht für die an NUTS-II gekoppelte Nutzung von Strukturfonds in Frage.17 1998 wurden auf Grundlage eines „Green Paper on Regional Development Policy“ acht neue Planungsregionen eingerichtet (vgl. Abb.). Deren Schaffung dient aus rumänischer Sicht allein wirtschaftlichen Zwecken.18 Ihnen zugeordnet ist ein Netzwerk regionaler Entwicklungsagenturen, das jedoch nur schwa-che Befugnisse hat; Entscheidungen über Gestaltung und Umsetzung der Regionalent-wicklungspolitik werden stattdessen in einer im Jahr 2000 eingerichteten Nationalen Behörde für Regionalentwicklung getroffen.19

Die Position der EU gegenüber den rumänischen Regionalisierungsschritten war, wie bereits angedeutet, ambivalent und bewegte sich zwischen einer Implementierung effizienter Wirtschaftspolitik einerseits und demokratischer Artikulation auf regionaler Ebene andererseits. Ein Blick auf die Vorbeitrittsphase zeigt und bestätigt allgemeine Annahmen über die letztlich „pragmatische Lösung“ bei der Umsetzung osteuropäi-scher Regionalisierungsansätze: Vorrangig suchte man zu gewährleisten, dass die EU-Regionalfonds effektiv verwaltet und abgerufen werden. Keating führt aus: „Given the weak state of public administration, particularly at local and regional level, in the can-didate countries, this led to an emphasis on simplification, centralized management and a key role for central ministries of finance.”20 Die Schaffung NUTS-gerechter Regio-nen bedeutete nicht zwangsläufig die entsprechende Einrichtung regionaler Organe mit Selbstverwaltungsfunktion. Die Kritik der EU-Kommission an mangelnden Verwal-tungskapazitäten führte sogar dazu, bevorzugt zentralstaatliche Einrichtungen mit der EU-Mittelvergabe zu betrauen.21. Dies kann einerseits als versäumte Gelegenheit zu ei-ner umfassenden Dezentralisierung des Staatswesens interpretiert, andererseits als Zuge-ständnis an die mit der postsozialistischen Transformation ohnehin belasteten politischen Systeme der Beitrittsstaaten verstanden werden. Unabhängig davon steht die Entwick-

16 L. Orban: Romania’s Accession Negotiations with the EU - A Chief Negotiator’s Perspective, In: D. Phinnemore (Hg.): The EU and Romania - Accession and Beyond, London 2006, S. 78 ff. 17 Bachtler: “Transition, Cohesion and Regional Policy”, S. 169 f. 18 M. Popovici: Die Entwicklung der Regionalisierung in Rumänien, In: O. Kretschmer / R. Hrbek (Hg.): Standortpolitik und Regionalisierung in Europa - Probleme, Kompetenzen, Lösungen (Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung, Bd. 16), Baden-Baden 1999, S. 118. 19 Hughes: „EU Enlargement“, S. 84 f. 20 M. Keating: Regionalization in Central and Eastern Europe - The Diffusion of a Western Model?, In: M. Keating / J. Hughes (Hg.): The Regional Challenge in Central and Eastern Europe - Territorial Restructur-ing and European Integration, Brüssel 2003, S. 59. 21 ebd., S. 60.

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lung in scharfem Widerspruch zu Bemühungen des Ausschusses der Regionen, die Ak-teure und Institutionen der regionalen Ebene in den Beitrittsländern zu stärken. Im Proto-koll zur Konferenz zwischen Vertretern des Ausschusses und rumänischen Kommunalver-tretern aus dem Jahr 2001 heißt es noch, die Dezentralisierung zugunsten der kommu-nalen und regionalen Ebene sei fester Bestandteil der Anpassungen im Verwaltungssek-tor; außerdem wird betont „(…) dass sich die lokalen und regionalen Gebietskörper-schaften in diesem Reformprozess Gehör verschaffen müssten.“22 Die gemeinsame Er-klärung zwischen dem Ausschuss und der Vereinigung lokaler Gebietskörperschaften Rumäniens enthält die Absicht, sich für die „Stärkung der Befugnisse der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften“ einzusetzen.23

Schlussbemerkung Wegen der Kürze der Entwicklung Rumäniens als Mitgliedsland der Europäischen Union kann im Grunde noch kein abschließendes Urteil über Erfolg und Misserfolg seiner Regi-onalisierung gefällt werden. Zwar darf mit Hinweis auf genannte Einwände von Regio-nalismus-Kritikern Regionalisierung nicht Selbstzweck sein, jedoch steht heraus, dass dem Kriterium der Effizienz offenbar weit mehr Bedeutung zugemessen worden ist als dem der Legitimität. Erstens hatte die Regionalisierung in Rumänien keinem klar definierten europäischen Ideal zu folgen; allenfalls wurde einem statistisch-administrativem Regi-onsbegriff entsprochen. Dass darüber nicht hinausgegangen wurde, lag zum einen an der exekutiven Präferenz der Europäischen Union und zum anderen an ungünstigen Voraussetzungen auf rumänischer Seite. Zweitens gewinnt damit der Aspekt der Erwei-terung deutlich an Gewicht gegenüber dem der Integration. Die „Schmalspur“-Regionalisierung reicht aus, um sich der europäischen Wirtschaft zu öffnen, bietet je-doch wenig Ansätze, lokale und regionale Akteure in europäische Politik direkt einzu-binden. Regionalisierung ist jedoch ein Bestandteil von Europäisierung und erschöpft sich nicht in Strukturfonds-gerechten Verwaltungsräumen. Auf welcher Grundlage und mit welcher Zielsetzung national mit Maßgaben der Regionalisierung umgegangen wird, bestimmt dabei nicht allein den Spielraum regionaler Entwicklung, sondern eben-falls die Chancen europäischer Politik selbst. Literatur E. BRUNOTTE ET AL. (Hrsg.) (2002): Lexikon der Geographie, Bd. 3, Heidelberg. J. DIERINGER / R. STURM (2005): Gesellschaftliche Regionalisierung? Zur Nachhaltigkeit EU-

induszierter Dezentralisierungsprozesse in Mittel- und Osteuropa, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, Baden-Baden, S. 50-70.

B. IMMIG (2007): Die europäische Regionalpolitik - Bestandsaufnahme und Ausblick auf die Förderperiode 2007-2013, Saarbrücken.

I. TÖMMEL (2006): Das politische System der EU, 2. Aufl., München. U. RUGE (2003): Die Erfindung des „Europa der Regionen“ - Kritische Ideengeschichte

eines konservativen Konzepts, Frankfurt/Main.

22 Protokoll über die Konferenz der Kontaktgruppe AdR/EU-Bewerberstaaten am 3. Oktober 2001 in Bukarest (Rumänien), abrufbar unter: http://corregistry.cor.europa.eu/CORregistryDocument.aspx?identifier=cdr5-2002_pv (S. 6) 23 ebd. (S. 13)

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J. BACHTLER ET AL. (Hg.) (2000): Transition, Cohesion and Regional Policy in Central and Eastern Europe, Aldershot.

E. TRÜTZSCHLER VON FALKENSTEIN (2005): Mittelosteuropa - Nationen, Staaten, Regionen, Frankfurt/Main.

J. HUGHES ET AL. (2003): EU Enlargement, Europeanisation and the Dynamics of Regionali-sation in the CEECs, in: M. Keating / J. Hughes (Hg.): The Regional Challenge in Central and Eastern Europe - Territorial Restructuring and European Integration, Brüssel, S. 69-88.

J. BATT (2003): ‘Fuzzy Statehood’ versus Hard Borders - The Impact of EU Enlargement on Romania and Yugoslavia, in: M. Keating / J. Hughes (Hg.): The Regional Chal-lenge in Central and Eastern Europe - Territorial Restructuring and European Inte-gration, Brüssel, S. 161-181.

L. ORBAN (2006): Romania’s Accession Negotiations with the EU - A Chief Negotiator’s Perspective, in: D. Phinnemore (Hg.): The EU and Romania - Accession and Be-yond, London, S. 78-94.

M. POPOVICI (1999): Die Entwicklung der Regionalisierung in Rumänien, in: O. Kretschmer / R. Hrbek (Hg.): Standortpolitik und Regionalisierung in Europa - Probleme, Kom-petenzen, Lösungen (Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung, Bd. 16), Baden-Baden, S. 117-120.

M. KEATING (2003): Regionalization in Central and Eastern Europe - The Diffusion of a Western Model?, in: M. Keating / J. Hughes (Hg.): The Regional Challenge in Cen-tral and Eastern Europe - Territorial Restructuring and European Integration, Brüssel, S. 55-73..

Protokoll über die Konferenz der KONTAKTGRUPPE ADR/EU-BEWERBERSTAATEN am 3. Oktober 2001 in Bukarest (Rumänien), abrufbar unter: http://corregistry.cor.europa.eu/CORregistryDocument.aspx?identifier=cdr5-2002_pv

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TEIL IV: RAUMBILDER – TÜRKEI UND IHRE RAUMWAHRNEHMUNG

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TEIL IV: RAUMBILDER – TÜRKEI UND IHRE RAUMWAHRNEHMUNG

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Teil IV Raumbilder: Türkei und ihre Raumwahrnehmung Das Türkeibild in deutschen Schulbüchern

Von: Claudia Stiehm Einleitung

Die Übermittlung und die Formung von Raumbildern im Sinne der geographical imagi-nation (vgl. GREGORY 1994) prägen die Handlungen und Entscheidungen von Individu-en. Schon früh in einer kollektiven Erziehung wirkt das Schulbuch bei der Gestaltung dieser Welt- und Raumbilder mit. Der folgende Beitrag behandelt die Frage, was Schülerinnen und Schüler in Deutsch-land mittels ihrer Schulbücher über die Türkei und türkische Migranten erfahren können. Das Schulbuch wird dabei als ein Medium gesellschaftlicher Diskurse verstanden, was soziokulturelles und in Teilen damit auch hegemoniales Wissen vermitteln soll. Welche Muster bei der Darstellung der Türkei und türkischer Migranten im Schulbuch (re)produziert werden, diese Frage soll abschließend auch konkret anhand eines Lehr-werks beantwortet werden. Als ein „didaktisches Massenmedium“ (vgl. STEIN 2003) versorgt das Schulbuch Genera-tionen von Kindern und Jugendlichen mit einem bestimmten ‚Wissen’, welches als eine Bündelung pluraler Meinungen zu einem vorläufigen Konsens (vgl. HÖHNE/KUNZ/RADTKE 2005: 11) verstanden werden kann. Schulbücher fungieren zudem als Räume oder Träger von gesellschaftlichen Diskursen. Wobei letztere verstanden werden als „Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (vgl. FOUCAULT 1981: 74) und Vorgaben für die Subjekt-bildung und die Strukturierung und Gestaltung von Gesellschaften schaffen (vgl. JÄGER

2001:84). Eine diskursanalytisch angelegte Untersuchung von Schulbüchern ermöglicht folglich eine Untersuchung von soziokulturellem (ergo einem spezifischen, hegemonialen) und Kollektive prägendem ‚Wissen’ (vgl. HÖHNE 2003a: 390) und der Regeln, nach denen soziale Wirklichkeit objektiv, begrifflich und strategisch gebildet wird (vgl. BUBLITZ 2001: 245). Was bedeutet das nun im Hinblick auf die Darstellung der Türkei in deutschen Schulbü-chern? Wird eine konstruktivistische Sichtweise auf Schulbuchwissen, das demnach kei-ne objektive Realität abbildet, sondern in dem „ein bestimmtes Wissen und somit eine spezifische Wirklichkeit konstruiert […]“ (HÖHNE 2003b: 59) wird, zugrunde gelegt, so kann danach gefragt werden, welches Bild über die Türkei den Schülerinnen und Schülern nahe gelegt wird und wie dieses Bild (re)produziert wird. Es soll nicht darum gehen, in-wiefern die Türkei richtig oder falsch dargestellt wird24, sondern welche Wirklichkeitskon-

24 Die Herausstellung von unsachgemäßer oder verzerrter Darstellungen im Schulbuch mit dem Ziel einer sachgerechteren und objektiveren Darstellung ist Teil einer ideologiekritischen Schulbuchfor-

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TEIL IV: RAUMBILDER – TÜRKEI UND IHRE RAUMWAHRNEHMUNG

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struktionen im Hinblick auf die Türkei favorisiert werden, nach welchen Verfahrensregeln dies erfolgt und welches seine Effekte sind.

Das Bild der Türkei in Deutschland Seit den 1960er Jahren wird das Bild der Türkei in Deutschland vermehrt durch die türki-schen Gastarbeiter bzw. türkischen Migranten geprägt, was sich auch im Schulbuch niederschlägt. Migranten werden im Schulbuch wie auch in anderen Massenmedien vor allem im Ver-lauf der 1980er Jahre zumeist mit der türkischen Minderheit gleichgesetzt und in Bezug auf Kultur und Religion als die Fremden dargestellt, die am meisten Probleme mit Integ-ration und Anpassung haben (vgl. HÖHNE/KUNZ/RADTKE 2005: 589). Es wird ihnen die Rolle der ‚Allzufremden’ unter den ‚Fremden’ zugeschrieben (vgl. RADTKE 1996: 10f). Türkische Migranten bilden die negative Folie zum positiven Bild der deutschen Gesellschaft, d.h. deren „konstitutives Außen“ (BUTLER 1993) (vgl. KRÜGER-POTRATZ 2005:195). Der oft synonyme Gebrauch von ‚Ausländer’/‚ausländisch’ und ‚Türke’/‚türkisch’, zeigt, dass ‚der Türke’/ ‚die Türkin’ zum Prototyp ‚des Ausländers’/‚der Ausländerin’ geworden sind (vgl. ebd. 194). Diese Gleichsetzung wird oft mit der großen Zahl der aus der Türkei Zugewanderten erklärt. HUTH-HILDEBRANDT belegt jedoch, dass der synonyme Gebrauch bereits zu einem Zeitpunkt gegeben war, als die türkischen Migrantinnen und Migranten noch nicht die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Zuwandernden stellte (vgl. 1999:36f). Die zugeschriebene besondere Fremdheit wird „–implizit wie explizit-, mit ihrer Herkunft aus den ökonomisch unterentwickelten Regionen eines nicht christlichen Landes und ihrer Verwurzelung im (Volks-)Islam gerechtfertigt“ (KRÜGER-POTRATZ 2005: 194f). Die Be-schreibung kreist dabei um die Attribute ‚rückständig’ und ‚hilflos’, was sich in einer „Opferfigur“ verdichtet (vgl. KRÜGER-POTRATZ 2005: 195). Das Bild der Türkei in deutschen Schulbüchern beinhaltet zudem ein Netz aus wiederholt auftretenden typisierenden Zuschreibungen (Dorf, Basar, Moschee, Kopftuch, mo-dern/traditional), wozu bestimmte semantische Komplexe, Differenzsetzungen oder Topoi wie ‚zwischen zwei Welten/Stühlen/Kulturen’ zählen (vgl. HÖHNE/KUNZ/RADTKE 2005:589). Dabei wird den türkischen Migranten eine ‚Kultur’ zugeschrieben, die konträr zu einer unterstellten ‚deutschen Kultur’ steht. Diese Zuweisungen basieren auf einem monolithi-schen, statischen Kulturverständnis, wonach Kulturgrenzen deckungsgleich mit Natio-nalgrenzen verlaufen. Es findet eine Kopplung der wir/sie-, fremd/eigen-, hier/dort-, modern/vormodern-, christlich/islamisch- und deutsch/ausländisch- Differenzen statt (vgl. ebd. 590).

schung (vgl. HÖHNE 2000:8), welche auf einem positivistischen Wissenschaftsverständnis aufbaut. Die Diskurstheorie hinterfragt diesen Positivismus und erkennt Wahrheit als eine Folge von Macht.

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Fallbeispiel: Das Schulbuch als Medium Das Bild der Türkei in deutschen Schulbüchern soll im Folgenden anhand eines Lehrwer-kes exemplarisch rekonstruiert werden. Das Lehrwerk Kaiser, E. u.a.: CVK- Sachbuch 2. Was? Wie? Warum? stammt aus dem Jahre 197825 und bietet eine vierseitige Lernein-heit an, die türkische Migranten und die Türkei thematisiert. Dabei steht die erste Dop-pelseite unter der Überschrift „Türkische Kinder leben bei uns“ (KAISER 1978:66f) (vgl. Abb.1 im Anhang) und die zweite Doppelseite unter der Überschrift „So sieht es in Fü-suns und Volkans Heimat aus“ (ebd. 68f) (vgl. Abb.2 im Anhang). Eine thematische Diskursanalyse dieser Lerneinheit wurde von HÖHNE, KUNZ UND RADTKE im Jahre 2005 vorgenommen, ihre Ergebnisse werden im Folgenden resümiert. In der Lerneinheit finden sich die im gesamten Diskurs geläufigen Vorstellungen von Aus-ländern (vgl. HÖHNE/KUNZ/RADTKE 2005: 142), zudem gibt sie Auskunft darüber, was Schü-lerinnen und Schüler über türkische Migranten und die Türkei lernen können. Der Lern-einheit folgend, sind die Männer schnauzbärtige Industriearbeiter in nicht leitender Funktion (Gastarbeitertopos), die Frauen mitarbeitend (vgl. ebd.). Es lässt sich das Motiv des türkischen Obst- und Gemüseladens finden, was als Bereicherungstopos identifiziert werden kann (vgl. ebd.). Dieser beschreibt ein Muster, nach dem die türkischen Migran-ten vor allem als kulturelle Bereicherung für die deutsche Gesellschaft dargestellt wer-den. Ein weiteres Muster lässt sich anhand der Darstellungen einer allgemeinen Wohnsi-tuation in Gestalt von Segregation und/oder Ghettobildung festmachen (Ghettotopos) (vgl. ebd.). Im untersuchten Schulbuch werden türkische Migrantenkinder im Schulall-tag als problematische Minderheit exponiert, welche durch (u.a. sprachliche) Defizite charakterisiert ist (Defizittopos) (vgl. ebd.). Sie werden zu Repräsentanten einer spezifi-schen, türkischen Kultur und dienen damit als Anschauungsobjekt im Unterricht (vgl. ebd.). Die in dieser Lerneinheit zu findende Darstellung einer typisch türkischen Familie, die als an den Normalitätsvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft orientierend charakterisiert wird, liegt eine Assimilationsvorstellung zugrunde, nach der Migration nur dann gelingt, wenn Migranten sich den Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft anpassen (vgl. ebd.). Dabei läuft die Anpassungsrichtung entlang der Achse vormodern/modern (Modernitätstopos). Deutschland wird in der Lerneinheit mithilfe eines Sets aus Fort-schrittlichkeit und positiver Entwicklungsrichtung im Sinne von „industrielle/maschinelle Produktions- und Arbeitsbedingungen, Ausdifferenzierung eines Dienstleistungssektors, städtisches Wohnen, relativ moderne Geschlechterrollen (insbesondere das Frauen-bild), Kleinfamilie (Eltern und zwei Kinder), umfassendes Bildungssystem und marktförmig vermittelte Nahrungsmittelproduktion und Ernährung“ (vgl. ebd.) beschrieben. Die Tür-kei wird konträr zu diesem Set ergo als die „Negation jener [Deutschland zugeschriebe-nen, C.S.] Modernität“ (ebd.) vorgestellt. Die Türkei ist durch „dörfliches Wohnen, Hand-arbeit, vorherrschend agrarische Prägung, Nahrungsmittelproduktion für den Eigenbe-darf (Subsistenzproduktion), Großfamilie, bloß rudimentär existierendes Bildungssystem

25 Auch wenn das Lehrwerk sehr alt ist, so lassen sich an ihm wiederkehrende Muster deutlich machen. Ein Vergleich zu einem jüngeren Lehrwerk ist im Rahmen dieses Beitrags leider nicht möglich, kann aber der Arbeit von Britta Schneider (2006) „Die ‚Bilder von Fremden’ im Pädagogikunterricht. Eine Untersu-chung am Beispiel ausgewählter Schulbücher“ entnommen werden.

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und Religiosität (Moschee)“ (ebd.) charakterisiert. Die Differenzsetzung vormo-dern/modern erweist sich in diesem Lehrwerk als ein tragendes Motiv (vgl. ebd.: 144). Diese Differenzsetzung kann zu sozialen und ökonomischen Beschreibungsformen ge-zählt werden. Diese Beschreibungsformen verschieben sich im Verlauf der 1980er Jahre zunehmend zu kulturellen26 Beschreibungen und Differenzsetzungen (vgl. HÖH-

NE/KUNZ/RADTKE 2005:603), das Andere/Fremde wird dann zum ‚kulturell’ Anderen oder Fremden; ‚Kultur’ wird als eine differentia specifica konstruiert.

Fazit und Ausblick Im Rahmen dieses Beitrags wurde versucht, einen Einblick in die Darstellungsweisen der Türkei in deutschen Schulbüchern zu geben. Auch wenn einige wiederkehrende Muster genannt wurden, so vermag er nicht ein komplettes Bild zu rekonstruieren. Dies war je-doch nicht das Anliegen, vielmehr sollte dazu angeregt werden, die Beschäftigung mit Schulbüchern nicht als einen Ausflug in eine ‚pädagogische Provinz’ zu werten, sondern sie als ein Produkt und Faktor gesellschaftlicher Prozesse zu identifizieren und ihnen somit ein neues Interesse entgegen zubringen. Literatur BUBLITZ, H. (2001): Differenz und Integration. Zur diskursanalytischen Rekonstruktion der

Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit. In: Keller, R./Hirseland, A./Schneider, W./ Viehöver, W. (Hrsg.) (2001): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden. Opladen: Leske + Budrich, S.225-260.

DIEHM, I./RADTKE, F.-O. (1999): Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart/ Berlin/ Köln: Kohlhammer.(= Grundriß der Pädagogik, Band 3).

HÖHNE, T. (2000): Fremde im Schulbuch. Didaktische Vorstrukturierung und Unterrichtsef-fekte durch Schulbuchwissen am Beispiel der Migrantendarstellung. Münster. (= iks-Querformat,3).

HÖHNE, T. (2003a): Die Thematische Diskursanalyse ─ dargestellt am Beispiel von Schul-büchern. In: Keller, R./Hirseland, A./Schneider, W./Viehöver, W. (Hrsg.) (2003):Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2: Forschungspra-xis. Opladen: Leske + Budrich, S.389-419.

HÖHNE, T. (2003b): Pädagogik der Wissensgesellschaft. Bielefeld: Transcript -Verlag. HÖHNE, THOMAS/KUNZ, THOMAS/RADTKE, FRANK-OLAF (2005): Bilder von Fremden. Was unsere

Kinder aus Schulbüchern über Migranten lernen sollen. Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft. Frankfurt.

HUTH-HILDEBRANDT, C. (1999): Die fremde Frau. Auf den Spuren eines Konstrukts der Migra-tionsforschung. Münster (= Interkulturelle Studien,29).

JÄGER, S. (2001): Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer kriti-schen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Keller, R./ Hirseland, A./ Schneider, W./ Viehöver, W. (Hrsg.) (2001): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden. Opladen: Leske + Budrich, S.81-112.

KAISER, E. U.A.(1978): CVK- Sachbuch 2. Was? Wie? Warum?

26 Dabei hält „mit der Kulturalisierung […] – so lässt sich mit Habermas formulieren – die Le-benswelt bzw. bestimmte Elemente der Lebenswelt thematisch im Schulbuch Einzug, wo bisher systemische Zusammenhänge als Begründung wichtig waren (ökonomisch, politisch)“ (Höh-ne/Kunz/Radtke 2005:605).

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TEIL IV: RAUMBILDER – TÜRKEI UND IHRE RAUMWAHRNEHMUNG

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KRÜGER-POTRATZ, M. (2005): Interkulturelle Bildung. Eine Einführung. Münster: Wax-mann.(= Lernen für Europa, Band 10).

KUNZ, THOMAS (2003):Guten Appetit? Aspekte der Thematisierung und Nicht-Thematisierung‚ ausländischer Mitschüler’ im Schulbuch, in Kloeters, Ulri-ke/Lüddecke, Julian/Quehl, Thomas (Hg.) (2003): Schulwege in die Vielfalt. Handreichung zur Interkulturellen und Antirassistischen Pädagogik in der Schule. Frankfurt/M./London, S.221-251

SCHNEIDER, B. (2006): Die ‚Bilder von Fremden’ im Pädagogikunterricht. Eine Untersu-chung am Beispiel ausgewählter Schulbücher. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag. (= Fremde Nähe. Wissenschaftliche Diskurse zu Politik, Gesellschaft und Wirt-schaft in einer globalisierten Welt, Band 7).

STEIN, G. (2003): Schulbücher in berufsfeldbezogener Lehrerbildung und pädagogischer Praxis. In: Wiater, W. (Hrsg.) (2003): Schulbuchforschung in Europa ─ Be-standsaufnahme und Zukunftsperspektive. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. (= Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuchforschung), S. 23-32.

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6. ANHANG

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